„Medizin der Zukunft“: Deutschlands Ärztinnen und Ärzte über KI, Telemedizin und Digitalisierung
Eine aktuelle FOCUS-Gesundheit-Befragung unter mehr als 6.700 Fachärzten zeigt, wie medizinisches Personal Chancen, Risiken und notwendige Veränderungen im Gesundheitswesen einschätzt
Künstliche Intelligenz, Videosprechstunden, personalisierte Therapien – Themen, die einst wie Zukunftsmusik klangen, prägen heute schon die Diskussion um die medizinische Versorgung von morgen. Im Rahmen der Datenerhebung zur FOCUS-Ärzteliste 2025 hat das Rechercheinstitut FactField im Auftrag von FOCUS-Gesundheit eine umfangreiche Umfrage unter mehr als 6.700 Fachärztinnen und Fachärzten durchgeführt. Die Ergebnisse liefern einen einzigartigen Einblick in die Perspektiven und Bewertungen ärztlicher Profis zu den drängenden Fragen unseres Gesundheitswesens.
Präsentiert wurden die zentralen Erkenntnisse auf dem ersten Live-Event & Dialog „Medizin der Zukunft“ in München. Dort diskutierten namhafte Vertreterinnen und Vertreter aus Wissenschaft, Klinikleitung und ärztlicher Selbstverwaltung, darunter Prof. Dr. Markus M. Lerch (LMU Klinikum), Dr. Sibylle Steiner (KBV) und Prof. Dr. Jochen Maas (House of Pharma & Healthcare), über die Rolle digitaler Innovationen, über Systemdefizite – und über die Zukunft einer menschennahen Medizin im digitalen Zeitalter.
Künstliche Intelligenz – vom Zukunftsthema zum Alltagshelfer
Die vielleicht eindrücklichste Zahl der Befragung: 89 Prozent der befragten Ärztinnen und Ärzte sehen in künstlicher Intelligenz (KI) eine echte Chance für die medizinische Diagnostik. Dabei geht es längst nicht mehr nur um abstrakte Zukunftsszenarien – in vielen Disziplinen wie Radiologie, Onkologie oder Pathologie werden bereits computergestützte Systeme eingesetzt, um Muster in Bilddaten zu erkennen oder Therapieoptionen vorzuschlagen.
Darüber hinaus sehen 85 Prozent Potenzial bei der Entlastung durch KI im Bereich der administrativen Aufgaben. Auch für die konkrete Patientenversorgung halten rund drei Viertel der Befragten den Einsatz intelligenter Systeme für sinnvoll. Angesichts des demografischen Wandels und zunehmender Versorgungsengpässe kommt der Digitalisierung eine Schlüsselrolle zu. Prof. Dr. Markus M. Lerch, ärztlicher Direktor des LMU Klinikums München, bringt es auf den Punkt: „Wir haben eine demografische Welle vor uns und jetzt schon das riesige Problem, dass uns zu wenige Pflegekräfte zur Verfügung stehen. Das können wir nur durch Digitalisierung lösen.“
Patientenbeteiligung erhöht Behandlungsqualität
Ein weiteres zentrales Thema der Befragung war die Rolle der Patientinnen und Patienten in der medizinischen Entscheidungsfindung. 94 Prozent der befragten Ärztinnen und Ärzte bestätigen, dass sich die Behandlungszufriedenheit erhöht, wenn sich Patienten aktiv einbringen. Ebenso verbessere sich die sogenannte Adhärenz – also die Therapietreue – deutlich. Das Konzept des „Shared Decision Making“, also der gemeinsamen Entscheidungsfindung zwischen Arzt und Patient, ist damit nicht nur Ausdruck einer modernen, partizipativen Medizin, sondern auch ein konkreter Faktor für Therapieerfolg. Patienten, die sich an der Auswahl ihrer Behandlung beteiligen, entwickeln ein besseres Verständnis für Risiken und Nebenwirkungen und tragen die Entscheidung oft motivierter mit.
Kommunikation wird zur Schlüsselqualifikation im Arztberuf
Die zwischenmenschliche Kommunikation steht hoch im Kurs – nicht nur bei Patienten, sondern auch unter Kolleginnen und Kollegen. In der Befragung wurde die Kommunikationskompetenz als wichtigste Fähigkeit zukünftiger Medizinerinnen und Mediziner benannt. Für 61 Prozent ist sie entscheidender als Fachwissen, Forschung oder technische Fertigkeiten. Erst danach folgen interdisziplinäre Zusammenarbeit, digitale Kompetenz und methodische Expertise.
Diese Ergebnisse unterstreichen: In einem hochkomplexen Gesundheitswesen, das zunehmend durch Technologie geprägt ist, bleibt der persönliche Austausch zentral – sowohl in der Arzt-Patienten-Beziehung als auch innerhalb multiprofessioneller Teams.
Telemedizin – Hoffnung für den ländlichen Raum
Ein weiteres spannendes Ergebnis betrifft die ärztliche Versorgung in strukturschwachen Regionen. Über zwei Drittel der befragten Ärztinnen und Ärzte (69 Prozent) sehen in der Telemedizin eine Chance, um Versorgungslücken auf dem Land zu schließen. Besonders für Patientinnen und Patienten, die weite Wege zur nächsten Facharztpraxis in Kauf nehmen müssen, eröffnen Videosprechstunden, Fernüberwachung chronischer Erkrankungen und digitale Diagnosetools neue Perspektiven. Anwendungen wie Teledermatologie, bei der Hautveränderungen per Foto beurteilt werden, gehören bereits in vielen Praxen zum Alltag.
Faxgeräte und Datenschutz – die Schattenseite der Digitalisierung
Ein überraschendes, aber auch ernüchterndes Ergebnis der Umfrage: 71 Prozent der deutschen Arztpraxen nutzen weiterhin Faxgeräte, weil die Telematikinfrastruktur (TI) nicht zuverlässig funktioniert oder technisch nicht kompatibel ist. Obwohl seit Jahren als Standard vorgesehen, verhindert die mangelhafte Interoperabilität vieler Praxissoftwares eine durchgängige digitale Kommunikation.
Zudem hemmen Datenschutzanforderungen nach Einschätzung von 42 Prozent der Befragten die Digitalisierung massiv. Die Balance zwischen Datensicherheit und Innovationsfähigkeit bleibt damit ein ungelöstes Dilemma. Weitere Bremsfaktoren sind technische Implementierungsprobleme (34 %), rechtliche Unsicherheiten (10 %) und Befürchtungen vor einer „Entmenschlichung“ der Medizin (8 %).
Blick nach vorn: personalisierte Medizin als Leitbild
Trotz aller Hürden blicken viele Ärztinnen und Ärzte zuversichtlich in die Zukunft – und setzen große Hoffnungen in die personalisierte Medizin. Für 90 Prozent der Befragten stellt sie die vielversprechendste Entwicklung der kommenden Jahre dar. Dazu zählen Verfahren wie Immuntherapien, Gentherapien, Robotik oder genetische Prädispositionsanalysen. Sie alle zielen darauf, medizinische Entscheidungen stärker an individuellen biologischen und genetischen Merkmalen auszurichten.
Prof. Dr. Jochen Maas, ehemaliger Sanofi-Forschungsleiter und Vizepräsident des House of Pharma & Healthcare, bringt es so auf den Punkt: „Der Patient von morgen erwartet eine individuelle Lösung für sein individuelles Problem.“
Fazit
Die Ergebnisse der Ärztebefragung zeichnen ein differenziertes Bild: Während neue Technologien wie KI und Telemedizin mit großer Zustimmung aufgenommen werden, zeigen technische Rückstände und Datenschutzprobleme, wie dringend strukturelle Veränderungen notwendig sind. Die Zukunft der Medizin wird digitaler, individueller und kooperativer – doch sie muss auch mit Augenmaß und Weitblick gestaltet werden. Nur so kann das deutsche Gesundheitswesen den Anforderungen von morgen gerecht werden.