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Wiesbadener Klinik erprobt Delirmanagement

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Annegret Beljan besucht ihre Patientinnen und Patienten mindestens einmal am Tag.
Annegret Beljan besucht ihre Patientinnen und Patienten mindestens einmal am Tag. Renate Hoyer © Renate Hoyer

Fachkraft Annegret Beljan kümmert sich im St.-Josefs-Hospital präventiv um ältere Patientinnen und Patienten, die nach Narkosen Verwirrtheitszustände entwickeln könnten.

Annegret Beljan hat einen Job, den es derzeit nur einmal in Hessen gibt. Sie ist Fachkraft im St.-Josefs-Hospital (Joho) in Wiesbaden und kümmert sich dort präventiv um Patientinnen und Patienten, bei denen eine Erkrankung droht, die Fachleute als postoperatives Delir bezeichnen: Nach dem Aufwachen aus einer Narkose sind die Patient:innen verwirrt, haben Gedächtnislücken, sind nicht mehr dieselben wie vor der OP. Untersuchungen zeigen, dass bis zu 60 Prozent der älteren hospitalisierten Patient:innen ein solches Delir entwickeln. Es kann bis zur Pflegebedürftigkeit führen.

Seit dem 1. April sorgt Annegret Beljan nun in der Wiesbadener Klinik dafür, dass solche Verwirrtheitszustände nach Operationen möglichst gar nicht erst entstehen. Die 36-Jährige kommt ursprünglich nicht aus dem medizinischen Bereich. Zwölf Jahre lang arbeitete sie als Bauzeichnerin, bevor sie sich beruflich neu orientierte und eine dreijährige Ausbildung zur Heilpraktikerin absolvierte. Während eines Praktikums fielen ihre Intuition und ihre Kommunikationsfähigkeiten auf. In einer internen Delirschulung erlernte sie die fachlichen Grundlagen und sorgt nun bis mindestens März 2025 mit ihrer speziellen Vertrauensarbeit dafür, das Auftreten von Desorientierung, Apathie oder Halluzinationen zu reduzieren.

Finanziert wird das Pilotprojekt von der AOK Hessen, die es gemeinsam mit dem Alterstraumatologischen Zentrum im Joho konzipiert hat. Beim postoperativen Delir handele es sich häufig um ein übersehenes Krankheitsbild, das schwere Folgen haben könne, sagt Joachim Henkel, der bei AOK Hessen für die stationäre Versorgung verantwortlich ist. Für das reguläre Pflegepersonal wäre der zeitliche Aufwand viel zu hoch, sich intensiv um Menschen zu kümmern, die hierfür anfällig sein könnten.

Annegret Beljan begleitet monatlich bis zu 20 Patientinnen und Patienten. Mit Hilfe von Analysetools kann das Krankenhaus diejenigen ermitteln, bei denen ein höheres Risiko für ein Delir besteht. Sie werden möglichst schon vor der Operation besucht. Annegret Beljan macht sich mit ihnen bekannt, erledigt organisatorische Angelegenheiten, gibt ihnen Orientierung, begleitet sie eng, um die Aufregung auf ein Minimum zu reduzieren. „Unsere Patientinnen und Patienten haben meine ungeteilte Aufmerksamkeit. Ich bin für sie da und bringe die Zeit mit, um sie vor allem nach dem Aufwachen und in den Tagen danach zu begleiten.“ Mindestens einmal am Tag besucht sie ihre Patientinnen und Patienten, wenn nötig auch mehrmals.

Für ein postoperatives Delir gibt es nach Angaben der Klinik verschiedene Ursachen: Es handelt sich um eine Reaktion des Gehirns auf entzündliche Prozesse im Körper. Offenbar wird das Immunsystem – in diesem Fall mit negativen Folgen – angekurbelt. Medikamente können diesen Prozess verstärken, ebenso eine bereits bestehende kognitive Einschränkung oder Hirnschädigung. Risikofaktoren sind zudem Flüssigkeitsdefizite und Vorerkrankungen wie Bluthochdruck, Diabetes oder akute Schmerzen. Männer sind eher betroffen als Frauen.

Teamarbeit ist notwendig, um ein Delir zu vermeiden. „Gemeinsam mit den Kolleginnen und Kollegen der Therapie und Pflege sorge ich auch für frühzeitige Mobilisation, Reorientierung und beziehe die Angehörigen mit ein, damit Realitätsverlust oder eine akute Wesensänderung gar nicht erst entstehen“, sagt Beljan. Besonders bei Operationen am Bewegungsapparat sei die Gefahr recht hoch – auch, weil sich die Patientinnen und Patienten in den ersten Tagen und Wochen nach der Operation nicht oder nur eingeschränkt bewegen können.

Verläuft das Pilotprojekt erfolgreich, ist eine Ausweitung auf andere Einrichtungen denkbar. Dass sich das Projekt rechnet, sei absehbar, teilt die AOK Hessen mit, denn bis zu 20 Prozent derjenigen, die ein Delir entwickeln, würden zum Pflegefall und seien für ihr restliches Leben auf fremde Hilfe angewiesen.

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