Unter dem Hashtag "Twankenhaus" erzählen seit einiger Zeit deutsche Ärztinnen und Ärzte sowie Pflegefachkräfte aus ihrem Arbeitsalltag: Nachzulesen sind Hunderte Fälle, in denen im Notfall etwas schiefläuft oder Intensivstationen unterbesetzt sind. Eine derjenigen, die davon berichtet, ist eine Frau, die sich Lieschen Müller nennt – ihren echten Namen will sie für sich behalten, weil sie Angst vor Konsequenzen am Arbeitsplatz hat. Die Unfallchirurgin und Mutter schreibt derzeit an einem Buch zu ihren Arbeitsbedingungen, das im kommenden Frühjahr erscheinen soll. Und sie gehört zum Verein Twankenhaus, der gerade ein Positionspapier zu dem Thema veröffentlicht hat. Sprechender Titel: Wunsch und Wirklichkeit.    

ZEIT ONLINE: Mit welchen Ideen sind Sie mal Ärztin geworden?

Lieschen Müller: Ich habe mich immer sehr für die Naturwissenschaften begeistert, in Mathe, Bio, Chemie war ich gut. Gleichzeitig war es für mich wichtig, eine Arbeit zu haben, bei der ich vorrangig mit Menschen zu tun habe. Deshalb hatte ich eigentlich nie ein anderes Ziel als Medizin. Ich habe schon gegen Ende der Schulzeit Praktika gemacht.

ZEIT ONLINE: Was hat Sie genau am Beruf der Unfallchirurgin fasziniert, am Operieren?

Müller: Die Gleichzeitigkeit von Kraft und Sensibilität, das Nebeneinander von Trauma, Tragik und Hoffnung. Außerdem passten mir das Handwerkliche und die Arbeit nach vermeintlich klaren Prinzipien gut. Etwas Kaputtes zu reparieren erzeugt schnelle Erfolge. Ich konnte der Heilung praktisch zusehen. Das hat mich zufrieden gemacht.

ZEIT ONLINE: War da schon absehbar, wie hart der Job ist?

Müller: Dass der auch schwer ist, habe ich wahrgenommen, aber das hat mich eher angezogen als abgestoßen. Viele Menschen erleben einen Unfall, einen Sturz oder eine Operation als Grenzerfahrung. Irgendwie schien es mir nur logisch, dass wir Ärzte ebenfalls an unsere Grenzen gehen mussten. Die Ärzte, bei denen ich Praktika absolvierte, warnten mich vor den Arbeitsbedingungen. Abgeschreckt hat mich das nicht. Ich war ehrgeizig und motiviert.  

ZEIT ONLINE: Auch in den praktischen Abschnitten des Studiums später, Famulatur und praktisches Jahr? Das gilt ja schon als besonders schwierige Zeit jeweils.

Müller: Ja, aber mich hat es eher in meinen Vorstellungen bestätigt. Heute weiß ich, dass ich ein idealisiertes Bild von der Arbeit als Unfallchirurgin hatte. Weil ich nur reingeschnuppert hatte. Es gab zwischendrin Phasen der Erholung, deshalb wirkte diese Arbeit spannend und schön.

"Die Arbeit ging ziemlich schnell über meine Belastungsgrenze und an die Zeit danach erinnere ich mich nur als eine dunkle, müde Phase, in der mir dauernd kalt war."
Lieschen Müller

ZEIT ONLINE: Wie sah es dann aus, als Sie tatsächlich anfingen zu arbeiten?

Müller: Damals war ich 25 Jahre alt und suchte mir bewusst eine mittelgroße Klinik aus. Ich wollte in einer Klinik arbeiten, die das gesamte Weiterbildungsspektrum anbietet, ohne die riesige Maschinerie einer Uniklinik. Außerdem wollte ich mich auf die praktische Ausbildung konzentrieren. Nach meiner Doktorarbeit war mir vorerst die Motivation für Forschungsarbeit verloren gegangen. Deshalb bin ich für meine Arbeit sogar umgezogen. Und die ersten paar Monate im Job waren tatsächlich aufregend. 

ZEIT ONLINE: Im positiven Sinne?

Müller: Ja. Dann ging es ziemlich schnell über die Belastungsgrenze und an die Zeit danach erinnere ich mich nur als eine dunkle, müde Phase, in der mir dauernd kalt war.

ZEIT ONLINE: Was heißt Belastungsgrenze in dem Fall?

Müller: Dass ich in den ersten zwei, drei Jahren immer mehr als 60 bis 80 Stunden, manchmal 100 Stunden in der Woche arbeitete. Ich habe selten geschlafen und wenn, dann maximal drei bis vier Stunden pro Nacht.