S 28 KR 590/11

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Frankfurt (HES)
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
28
1. Instanz
SG Frankfurt (HES)
Aktenzeichen
S 28 KR 590/11
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Beklagte wird verurteilt, den Betrag in Höhe von 395,57 EUR nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz hieraus seit dem 30. März 2011 an die Klägerin zu zahlen.

Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.

Die Berufung wird zugelassen.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist die Vergütung einer Krankenhausbehandlung insbesondere die Kodierung der Nebendiagnose N17.9 (akutes Nierenversagen, nicht näher bezeichnet) streitig.

Der bei der Beklagten gesetzlich krankenversicherte 1961 geborene Herr C. befand sich vom 8. bis 17. Februar 2010 in stationärer Behandlung in der Klinik der Klägerin. Grund der Einweisung am 8. Februar 2010 war ein fieberhafter gastrointestinaler Infekt. Bei der Aufnahme in das Krankenhaus lagen eine fieberhafte akute Gastroenteritis mit initial septischem Verlauf und Diarrhöen vor. Zusätzlich bestanden ein insulinpflichtiger Diabetes mellitus, ein Zustand nach Schlaganfall und ein bekannter arterieller Hypertonus. Auffällig war im Aufnahmelabor ein erhöhter Kreatininwert (Parameter für die Nierenfunktionsleistung) von maximal 2,3 am 9. Februar 2010 (Referenzbereich 0,6 bis 1,3 mg/dl), sodass im Zusammenhang mit der akuten Gastroenteritis von einem prärenalen (vor der Niere liegenden) Nierenversagen aufgrund eines Flüssigkeitsmangels (Exsikkose) auszugehen war. Nach deutlicher Besserung der Beschwerdesymptomatik konnte der Patient am 18. Februar 2010 bei Fieberfreiheit und deutlichem Rückgang der Durchfälle in die weitere ambulante Behandlung entlassen werden.

Das Krankenhaus kodierte für die Abrechnung des Aufenthaltes u.a. folgende Erkrankungen:
Hauptdiagnose: A09.0 Sonstige und nicht näher bezeichnete Gastroenteritis und Kolitis infektiösen und nicht näher bezeichneten Ursprungs
Nebendiagnose: N17.9 (akutes Nierenversagen, nicht näher bezeichnet).

Die Klägerin stellte für die Behandlung des Versicherten unter Zugrundelegung der DRG G67A (Ösophagitis, Gastroenteritis, gastrointestinale Blutung, Ulkuserkrankung und verschiedene Erkrankungen der Verdauungsorgane mit bestimmter komplizierender Diagnose oder mit komplexer Prozedur oder mit Dialyse) 2.103,05 EUR am 8. April 2010 in Rechnung. Nach Übermittlung der Daten an die Beklagte zeigte die Beklagte Zweifel an der Abrechnung an und schaltete den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) Hessen ein.

Mit Gutachten vom 15. Juli 2010 änderte der MDK die Nebendiagnose in N19 ab. Sofern weder eindeutig ein akutes noch ein chronisches Nierenversagen vorliege, sei die Niereninsuffizienz mit N19 (nicht näher bezeichnete Niereninsuffizienz) zu verschlüsseln, wenn eine Beeinflussung des Patientenmanagements vorgelegen habe.

Basierend auf dieser Einschätzung forderte die Beklagte die Klägerin mit Schreiben vom 23. Juli 2010 auf, die Rückerstattung der streitigen Forderung in Höhe von 395,57 EUR vorzunehmen.

Hiergegen erhob die Klägerin mit Schreiben vom 24. September 2010 Widerspruch und führte aus, dass es sich bei der Stadieneinteilung der akuten Nierenschädigung nach AKIN und RIFLE um eine Einteilung des akuten Nierenversagens nach Schweregraden handele. Nach den Deutschen Kodierrichtlinien (DKR) könne somit ein akutes Nierenversagen jeglicher Schwere kodiert werden, sobald ein Ressourcenverbrauch zu verzeichnen sei. Dies sei vorliegend unstreitig gegeben.

Mit Gutachten vom 2. Dezember 2010 führte der MDK hierzu aus, dass eine divergente Auffassung bzgl. der Einordnung des hier vorliegenden AKIN-Stadiums 2 vorliege. Dies entspreche einem drohenden akuten Nierenversagen (injury) und nicht einem manifesten akuten Nierenversagen (failure). Daher sei die Nebendiagnose N17.9 nicht korrekt.

Mit Schreiben vom 6. Dezember 2010 teilte die Klägerin mit, dass sie an ihrer Rechtsauffassung festhalte und eine Rechnungskorrektur nicht in Betracht komme. Die Beklagte brachte den streitigen Betrag sodann von dem Rechnungsbetrag einer anderen Versicherten gegenüber der Klägerin in Abzug.

Unter dem 25. Oktober 2011 hat die Klägerin bei dem hiesigen Gericht Klage erhoben, mit welcher sie weiterhin die Zahlung des ausstehenden Betrages in Höhe von 395,57 EUR von der Beklagten begehrt.

Das Gericht hat von Amts wegen ein Sachverständigengutachten in Auftrag gegeben, welches Dr. med. A. am 24. Januar 2013 erstellt hat. Darin hat er ausgeführt, dass als Überschrift über beiden Klassifikationen (RIFLE / AKIN) die Einteilung des akuten Nierenversagens / -schädigung stehe. AKIN teile ein, was bisher im medizinischen Sprachgebrauch als akutes Nierenversagen bezeichnet worden sei und was die ICD als akutes Nierenversagen klassifiziere. Eine weitere Spezifizierung des akuten Nierenversagens liege in dem Ort des Geschehens, sodass im klinischen Sprachgebrauch von einem prä- (vor der Niere), intra- (in der Niere selbst) oder postrenalen (nach der Niere) Nierenversagens gesprochen werde. Nach der Auffassung der Beklagten bleibe unklar, was aus medizinischer Sicht ein sich anbahnendes oder drohendes Nierenversagen sein solle. Diese Terminologie sei im medizinischen Sprachgebrauch nicht etabliert. Entweder liege ein akutes Nierenversagen vor oder nicht. Nach den DKR würden sich anbahnende oder drohende Krankheiten nicht kodiert. Sich anbahnende oder drohende Krankheiten würden nur dann kodiert, wenn sich unter den ICD-Schlüsseln ein solcher Hinweis finde. Da für den ICD Kode N17.9 ein solcher Hinweis fehle, könne man das akute Nierenversagen nach der Argumentation der Beklagten nicht kodieren, obwohl unbestritten klinisch ein akutes Nierenversagen vorliege. Der Mehraufwand ergebe sich aus den Laborkontrollen der Nierenretentionsparameter und der Infusionstherapie, sodass nach den DKR D003 für Nebendiagnosen das akute Nierenversagen verschlüsselt werden müsse. Zusammenfassend könne festgestellt werden, dass die Argumentation der Beklagten weder medizinisch haltbar sei noch nach den Regelwerken zur Kodierung korrekt erfolge. Aus der Sicht des Sachverständigen handele es sich nach den oben genannten Ausführungen für diesen Behandlungsfall eindeutig um ein akutes Nierenversagen, welches nach den Regeln der ICD nur mit dem ICD Kode N17.9 abzubilden sei.

Der Einschätzung des Sachverständigen ist die Beklagte entgegengetreten und bezieht sich insoweit auf das Gutachten des MDK vom 15. März 2013. Der Terminus akute Nierenschädigung entspreche nicht dem Terminus eines akuten Nierenversagens. Auch sei die AKIN Definition eine Stadieneinteilung der akuten Nierenschädigung und nicht des akuten Nierenversagens. Nur das AKIN Stadium 3 entspreche dem Stadium Failure (Versagen) nach den RIFLE Stadien. Im vorliegenden Fall liege ein AKIN Stadium 2 bzw. RIFLE Stadium Injury vor. Der ICD biete lediglich eine Einteilung in N17 - akutes Nierenversagen, N18 - chronische Nierenkrankheit und N19 - nicht näher bezeichnete Niereninsuffizienz. Der Terminus akute Nierenschädigung finde sich nicht. Da weder die Kriterien eines akuten Nierenversagens nach RIFLE Stadium Failure/ AKIN Stadium 2 noch die Kriterien einer chronischen Nierenkrankheit erfüllt seien, bleibe als Kodierung nur die Nebendiagnose N19.

Mit der ergänzenden Stellungnahme vom 1. August 2013 hat der Sachverständige mitgeteilt, dass er an seinen Ausführungen festhalte.

Die Klägerin beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin den Betrag in Höhe von 395,57 EUR nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 30. März 2011 hilfsweise ab Rechtshängigkeit zu zahlen.

Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Vorbringens der Beteiligten und des Sachverhalts im Übrigen wird auf den Inhalt der Gerichtsakte, der beigezogenen Patientenakte sowie des Verwaltungsvorgangs der Beklagten Bezug genommen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung am 12. Januar 2015 und der Entscheidung gewesen sind.

Entscheidungsgründe:

Die Klage ist als (echte) Leistungsklage nach § 54 Abs. 5 SGG zulässig. Bei einer auf Zahlung der Restbehandlungskosten eines Versicherten gerichteten Klage eines Krankenhauses gegen eine Krankenkasse geht es um einen so genannten Parteienstreit im Gleichordnungsverhältnis, in dem eine Regelung durch Verwaltungsakt nicht in Betracht kommt (vgl. BSG, Urteil vom 17. Juni 2000, Az. B 3 KR 33/99 R; Urteil vom 23. Juli 2002, Az. B 3 KR 64/01 R). Ein Vorverfahren war mithin nicht durchzuführen, die Einhaltung einer Klagefrist nicht geboten (i.Ü. BSG, 8. Oktober 2014, Az. B 3 KR 7/14 R).

Die Klage ist auch begründet. Die Klägerin hat einen Anspruch auf die Vergütung der geltend gemachten Krankenhausbehandlung für den 1961 geborenen Herrn C. auf der Grundlage der von ihr abgerechnete DRG G67A in Höhe von insgesamt 2.103,05 EUR (streitig: 395,57 EUR). Die von der Beklagten vorgetragenen Bedenken vermögen das Gericht nicht zu überzeugen.

Rechtsgrundlage des geltend gemachten Vergütungsanspruchs ist hier § 109 Abs. 4 Satz 3 SGB V i.V.m. § 7 Abs. 1 des Gesetzes über die Entgelte für voll- und teilstationäre Krankenhausleistungen - Krankenhausentgeltgesetz (KHEntgG) und dem Vertrag über die Bedingungen der Krankenhausbehandlung nach § 112 Abs. 2 Nr. 1 SGB V für das Land Hessen. Danach entsteht die Zahlungsverpflichtung einer Krankenkasse - unabhängig von einer Kostenzusage - unmittelbar mit der Inanspruchnahme der Leistung durch den Versicherten, wenn die Versorgung in einem zugelassenen Krankenhaus durchgeführt wird und im Sinn von § 39 Abs. 1 Satz 2 SGB V erforderlich ist. Der Behandlungspflicht zugelassener Krankenhäuser im Sinn des § 109 Abs. 4 Satz 2 SGB V steht ein Vergütungsanspruch gegenüber, der auf der Grundlage der gesetzlichen Ermächtigung in §§ 16, 17 Krankenhausfinanzierungsgesetz (KHG) in der Pflegesatzvereinbarung zwischen Krankenkasse und Krankenhausträger festgelegt wird.

Hierzu ist zunächst festzustellen, dass es sich bei der Klägerin um ein zugelassenes Krankenhaus im Sinn des § 108 SGB V gehandelt hat, der Patient Herr C. während der Dauer der streitigen Krankenhausbehandlung bei der Beklagten versichert war und ohne Zweifel einer Krankenbehandlung mit den Mitteln eines Krankenhauses bedurfte, weil das Behandlungsziel nicht durch eine teilstationäre, vor- und nachstationäre oder ambulante Behandlung einschließlich häuslicher Krankenbehandlung erreicht werden konnte (§ 39 Abs. 1 Satz 2 SGB V).

Gemäß § 7 Abs. 1 Satz 1 KHEntgG werden die allgemeinen Krankenhausleistungen gegenüber den Patienten oder ihren Kostenträgern mit verschiedenen, in den Nrn. 1 bis 7 abschließend aufgezählten Entgelten abgerechnet. Damit sind nach ausdrücklicher Regelung des § 7 Abs. 1 Satz 2 KHEntgG "alle für die Versorgung des Patienten erforderlichen allgemeinen Krankenhausleistungen" abgegolten (BSG, Urteil vom 25. November 2010, Az. B 3 KR 4/10 R). Streitig ist hier die Abrechnung von Fallpauschalen nach dem auf Bundesebene vereinbarten Entgeltkatalog (§ 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1) i.V.m. der auf der Grundlage des § 9 KHEntgG und § 17b KHG abgeschlossenen Vereinbarung der Deutschen Krankenhausgesellschaft mit den Spitzenverbänden der Krankenkassen zum Fallpauschalensystem für Krankenhäuser für das Jahr 2010 (FPV 2010), welche einen Fallpauschalenkatalog einschließlich der Bewertungsrelationen sowie Regelungen zur Grenzverweildauer und der in Abhängigkeit von diesen zusätzlich zu zahlenden Entgelte oder vorzunehmenden Abschläge enthält.

Der Fallpauschalenkatalog ist nach Fallgruppen (DRG) geordnet. Dabei erfolgt die Zuordnung eines bestimmten Behandlungsfalles zu einer DRG in zwei Schritten: Zunächst wird die durchgeführte Behandlung nach ihrem Gegenstand und ihren prägenden Merkmalen mit einem Diagnosekode gemäß dem vom Deutschen Institut für medizinische Dokumentation und Information (DIMDI) im Auftrag des BMG herausgegebenen Internationalen Klassifikation der Krankheiten in der deutschen Fassung (ICD-10-GM) sowie ggf. mit einem vom DIMDI herausgegebenen "Operationen- und Prozedurenschlüssel nach § 301 SGB V" (OPS-301) verschlüsselt (§ 301 Abs. 2 Satz 1 und 2 SGB V). In einem zweiten Schritt werden die in den Computer eingegebene Diagnose- und OPS-Kodes einer bestimmten DRG zugeordnet, anhand der dann nach Maßgabe des Fallpauschalenkatalogs und der Pflegesatzvereinbarung die von der Krankenkasse zu zahlende Vergütung errechnet wird. Diesem als "Groupierung" bezeichneten Prozess der Fallgruppenzuordnung (DRG-Zuordnung) liegt ein festgelegter Groupierungsalgorithmus zugrunde. Auf der Basis eines "Entscheidungsbaumes" wird anhand verschiedener Kriterien eine exakte DRG-Zuordnung vorgenommen. Zur Einstufung in die jeweils abzurechnende DRG werden Software-Programme (Grouper) eingesetzt, die vom Institut für das Entgeltsystem im Krankenhaus (InEK), einer Einrichtung der Selbstverwaltungspartner, zertifiziert sind. Grundlage hierfür ist ein entsprechendes Definitionshandbuch (BSG, Urteil vom 25. November 2010, Az. B 3 KR 4/10 R; BSG, Urteil vom 8. November 2011, Az. B 1 KR 8/11 R; SG Stralsund, Urteil vom 14. Dezember 2012, Az. S 3 KR 11/09).

Zur sachgerechten Durchführung dieser Verschlüsselung ("Kodierung") haben die Vertragspartner auf Bundesebene "Kodierrichtlinien" beschlossen. Maßgebend für den vorliegenden Abrechnungsfall sind die für den Tag der stationären Aufnahme geltenden Abrechnungsregeln, d.h. vorliegend die Deutschen Kodierrichtlinien 2010 (DKR 2010). Die korrekte Kodierung einer vollstationären Krankenhausbehandlung ist danach dem Grunde nach von der Beantwortung folgender fünf Fragen abhängig:

- Weshalb wurde der Patient/die Patientin aufgenommen und hauptsächlich behandelt (Stichwort Hauptdiagnose)?
- Welche Behandlung dieser Diagnose wurde durchgeführt und ist diese verschlüsselbar (Stichwort Prozedur)?
- Hatte der Patient/die Patientin noch weitere Erkrankungen, die während des Aufenthalts einer Behandlung bedurften (Stichwort Nebendiagnosen)?
- Gab es zusätzliche Faktoren (z.B. Behinderungen, Funktionseinschränkungen etc.), die die Versorgung des Patienten/der Patientin erschwert haben (Stichwort weitere Nebendiagnosen)?
- Hat der Patient/die Patientin noch andere relevante kodierbare Behandlungen erhalten (Stichwort weitere Prozeduren)?

Streitig und für die Abrechenbarkeit der von der Klägerin zugrunde gelegten DRG G67A entscheidungserheblich, ist vorliegend die Kodierbarkeit der Nebendiagnose N17.9 nach der DKR 2010, die hier nach der von den Selbstverwaltungspartnern bestimmten Entscheidungslogik (dem sog. Entscheidungsbaum) insoweit erlöswirksam ist, als sie zusammen mit der unstreitigen Hauptdiagnose A09.0 die DRG G67A auslöst.

Die Anwendung der DKR und der FPV-Abrechnungsbestimmungen ist nicht automatisiert und unterliegt als Mitsteuerung der prozesshaften Tatbestandsbildung im Zusammenspiel mit den Vorgaben zertifizierter Grouper ihrerseits grundsätzlich den allgemeinen Auslegungsmethoden der Rechtswissenschaft. Die DKR sind gleichwohl wegen ihrer Funktion im Gefüge der Ermittlung des Vergütungstatbestandes innerhalb eines vorgegebenen Vergütungssystems eng am Wortlaut orientiert und unterstützt durch systematische Erwägungen auszulegen. Der 1. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) sieht sich hierbei in Übereinstimmung mit dem 3. Senat, nach dessen Rechtsprechung der ausdifferenzierte Algorithmus, mit dem die verschlüsselten Prozeduren und Diagnosen in eine bestimmte DRG "übersetzt" werden, einer wertenden Betrachtung im Einzelfall nicht zugänglich ist. Eine Vergütungsregelung, die für die routinemäßige Abwicklung von zahlreichen Behandlungsfällen vorgesehen ist, kann ihren Zweck nur erfüllen, wenn sie allgemein streng nach ihrem Wortlaut sowie den dazu vereinbarten Anwendungsregeln gehandhabt wird und keinen Spielraum für weitere Bewertungen sowie Abwägungen belässt. Demgemäß sind Vergütungsregelungen stets eng nach ihrem Wortlaut und allenfalls ergänzend nach ihrem systematischen Zusammenhang auszulegen; Bewertungen und Bewertungsrelationen bleiben außer Betracht (BSG, Urteil vom 8. November 2011, Az. B 1 KR 8/11 R).

Die Nebendiagnose ist nach den vorliegend maßgeblichen Richtlinien (DKR 2010, D003i) definiert als "eine Krankheit oder Beschwerde, die entweder gleichzeitig mit der Hauptdiagnose besteht oder sich während des Krankenhausaufenthaltes entwickelt". Für Kodierungszwecke müssen Nebendiagnosen als Krankheiten interpretiert werden, die das Patientenmanagement in der Weise beeinflussen, dass irgendeiner der folgenden Faktoren erforderlich ist:
- therapeutische Maßnahmen
- diagnostische Maßnahmen
- erhöhter Betreuungs-, Pflege- und/oder Überwachungsaufwand.

Für Symptome gelten die Regelungen zur Kodierung von Nebendiagnosen entsprechend. Abnorme Labor-, Röntgen-, Pathologie- und andere diagnostische Befunde werden nicht kodiert, es sei denn, sie haben eine klinische Bedeutung im Sinne einer therapeutischen Konsequenz oder einer weiterführenden Diagnostik (DKR 2010, D003d).
Zur Frage, was unter einem akuten Nierenversagen zu verstehen ist, enthalten die DKR 2010 keine näheren Vorgaben.

Die geforderte "wortlautgetreue Auslegung" des Begriffs muss sich, ausgehend vom allgemeinen Sprachgebrauch, vernünftigerweise an den in medizinischen Fachkreisen eingebürgerten Begrifflichkeiten orientieren, sofern es solche gibt. Hierzu führt der medizinische Sachverständige in seinen Gutachten vom 24. Januar 2013 aus, dass 2004 von einer internationalen Konsensuskonferenz Kriterien zur Definition des akuten Nierenversagens erarbeitet worden sind, weil eine entsprechende einheitliche Definition fehlte. Hierbei wurden die sogenannten RIFLE- Kriterien (Risk, Injury, Failure, Loss und End stage kidney disease) erarbeitet. Diese Kriterien wurden 2007 von einer internationalen Arbeitsgruppe AKIN ("Acute Kidney Injury Network") aufgegriffen und überarbeitet.

Diese Definitionen wurden in den im März 2012 veröffentlichten internationalen KDIGO-Leitlinien der International Society of Nephrology zum akuten Nierenversagen verwendet. Sie lösen die bisherigen Definitionen des akuten Nierenversagens der RIFLE-Kriterien und der AKIN-Definitionen ab. Dem englischen Begriff für AKI, acute kidney injury (akute Nierenschädigung) wird bei den KDIGO - Leitlinien der Begriff akute kidney impairment (akute Nierenstörung) zur Seite gestellt, um darauf hinzuweisen, dass mit AKI nicht nur die Schädigung, sondern auch eine Funktionsstörung der Nieren gemeint ist. Der deutsche Begriff akutes Nierenversagen (ANV) als Übersetzung von akute kidney injury/ impairment steht deshalb sowohl für eine akute Nierenschädigung als auch für eine akute Störung der Nierenfunktion, unabhängig davon, ob die Nierenfunktion geringfügig, stärker ausgeprägt oder vollständig reduziert ist (Kodierleitfaden Nephrologie Version 2014 der Deutschen Gesellschaft für Nephrologie, Seite 53).

Nach Auffassung der Beklagten entspricht der Terminus akute Nierenschädigung dagegen nicht dem Terminus eines akuten Nierenversagens und die AKIN Definition stelle eine Stadieneinteilung der akuten Nierenschädigung und nicht des akuten Nierenversagens dar. Definitionsgemäß liege ein akutes Nierenversagen im Sinne der Nebendiagnose N17.9 nur dann vor, wenn die Kriterien von AKIN 3, nämlich Failure (zu Deutsch: Versagen) erfüllt sind. Nur das AKIN Stadium 3 entspreche dem Stadium Failure (Versagen) nach den RIFLE Stadien.

Hierzu führt der Sachverständige Dr. A. in seinem Gutachten vom 24. Januar 2013 aus, dass die Auffassung der Beklagten nicht den medizinischen Vorgaben entspricht und sich ausschließlich mit der Definition und Übersetzung der verwendeten Wörter innerhalb der Klassifikation und nicht mit deren Nutzen/Bedeutung beschäftigt. Jede akute Beeinträchtigung der Nierenfunktion (Filtration/Tubulusapparat) gleich welches Stadium vorliegt, wird dabei unter dem international akzeptierten Überbegriff des Acute Kidney Injury (AKI) / akute Nierenschädigung subsumiert, sodass ein akutes Nierenversagen, wenn die inhaltlichen Kriterien erfüllt sind, mit dem ICD-Code N17.9 (akutes Nierenversagen, nicht näher bezeichnet) kodiert werden muss. Als Überschrift steht über beiden Klassifikationen (RIFLE / AKIN) die Einteilung des akuten Nierenversagens / -schädigung. AKIN teilt ein, was bisher im medizinischen Sprachgebrauch als akutes Nierenversagen bezeichnet wird und was die ICD als akutes Nierenversagen klassifiziert. Eine weitere Spezifizierung des akuten Nierenversagens liegt lediglich in dem Ort des Geschehens, sodass im klinischen Sprachgebrauch von einem prä- (vor der Niere), intra- (in der Niere selbst) oder postrenalen (nach der Niere) Nierenversagens gesprochen wird. Vorliegend handelt es sich eindeutig um ein akutes Nierenversagen bei Exsikkose, also um ein prärenales Nierenversagen.

An der Richtigkeit der in dem Gerichtsgutachten vertretenen Auffassung und an der Einschätzung des Sachverständigen zu zweifeln, sieht das Gericht keinen Anlass. Es ist zu der Überzeugung gelangt, dass - unter Würdigung der Ausführungen des gerichtlichen Sachverständigen, der sich ausführlich mit dem Behandlungsfall auseinandergesetzt hat - der Einschätzung des Sachverständigen in vollem Umfang zu folgen ist. Bei dieser Sachlage hält das Gericht den Sachverhalt für ausreichend geklärt und weitere Ermittlungen für nicht mehr geboten. Die Ausführungen des Sachverständigen sind in sich schlüssig, widerspruchsfrei und überzeugend. Die Beurteilung wird in dem vorgelegten Gutachten mit nachvollziehbarer und für das Gericht einleuchtender Begründung aus den gestellten Unterlagen hergeleitet.

Maßgebend ist nach Auffassung des Gerichts, dass der Terminus Acute Kidney Injury in allen Stadien per definitionem das gesamte Spektrum des akuten Nierenversagens umfasst, weshalb es in der Originalpublikation von Mehta und anderen zu den AKIN-Kriterien auch ausdrücklich heißt: "the term acute kidney injury is proposed to represent the entire spectrum of acute renal failure" (der Terminus akute Nierenschädigung wurde vorgeschlagen, um das gesamte Spektrum des akuten Nierenversagens darzustellen) (SG Freiburg (Breisgau), Urteil vom 24. Mai 2012, Az. S 5 KR 6370/11).

"Während also die Nomenklatur des akuten Nierenversagens durch die RIFLE &8208;, AKIN &8208; und KDIGO &8208; Kriterien weiter differenziert und mittlerweile bei Klinikern und Wissenschaftlern eine gute Akzeptanz gefunden hat, hat dieser Wandel in der Klassifikation des akuten Nierenversagens schlicht noch nicht stattgefunden. Daraus folgt aber gerade nicht, dass durch diese nomenklatorische Differenzierung einzelne Untergruppen des akuten Nierenversagens klassifikatorisch nicht mehr abgedeckt werden können. Dies würde auch der Zielsetzung einer Klassifikation, alle Krankheitsbilder in Gruppen zusammenzufassen, widersprechen und dazu führen, dass bisher kodierbare Erkrankungen Kodiertechnisch "ins Leere laufen" würden. Dass dabei bewusst nicht alle nomenklatorischen Differenzierungen im Kode N17.9 mit dargestellt werden können, gehört zum Wesen einer Klassifikation." (u.a. Prof. Dr. med. Kribben, Musterstellungnahme zur Kodierung des akuten Nierenversagens, 2014).

Insoweit ist es auch nicht statthaft, in diesem Zusammenhang auf den ICD-Code N19 (nicht näher bezeichnete Niereninsuffizienz - Inklusive: Niereninsuffizienz, nicht als akut oder chronisch bezeichnete) auszuweichen. Wie das lnklusivum unter dem ICD Kode N19 vorgibt, sollen hier Zustände nicht als akut oder chronisch bezeichnet, angegeben werden. Da sich alle Beteiligten im vorliegenden Fall jedoch einig sind, dass es sich um ein akutes Ereignis gehandelt hat, kann dieser ICD-Kode nicht benutzt werden. Des Weiteren entspricht der Terminus Niereninsuffizienz in diesem Behandlungsfall nicht dem Krankheitsbild des Patienten. Die von der Beklagten vorgeschlagene Kodierung scheidet somit aus. Die von der Klägerin durchgeführte Kodierung ist nicht zu beanstanden.

Der Zahlungsanspruch der Klägerin ist begründet.

Die Klage ist auch im Hinblick auf den geltend gemachten Zinsanspruch begründet. Der Zinsanspruch folgt aus § 10 Abs. 5 des Vertrages über die Bedingungen der Krankenhausbehandlung nach § 112 Abs. 2 Nr. 1 SGB V für das Land Hessen. Anspruchsbegründender Verzug trat spätestens am 30. März 2010 ein.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a SGG i.V.m. § 154 Abs. 1 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO).

Vorliegend bedarf die Berufung der Zulassung, da der Wert des Beschwerdegegenstandes 750 EUR nicht übersteigt. Die Berufung ist zuzulassen, da die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat. Die im vorliegenden Verfahren aufgeworfene Frage der Kodierung eines akuten Nierenversagens/-schädigung ist bisher ungeklärt und klärungsbedürftig. Auch ist diese Rechtsfrage im konkreten Fall entscheidungserheblich und ihre rechtliche Bedeutung geht über den konkreten Einzelfall hinaus.
Rechtskraft
Aus
Saved