Intensivstationen am Limit: Kliniken melden erhebliche Personalengpässe

Ein Mitglied des Corona-Expertenrats warnt vor plötzlicher Knappheit in Kliniken – zuletzt galt die Lage noch als relativ entspannt.

Arbeit auf der Intensivstation: „Das System steht näher an einem Kipppunkt, als ich dachte“, sagt Mediziner Christian Karagiannidis.
Arbeit auf der Intensivstation: „Das System steht näher an einem Kipppunkt, als ich dachte“, sagt Mediziner Christian Karagiannidis.dpa

„Die Personalsituation auf den Intensivstationen ist enorm angespannt“, sagt Christian Karagiannidis als Mitglied des Corona-Expertenrats der Bundesregierung: „Das System steht näher an einem Kipppunkt, als ich bisher dachte.“

Karagiannidis leitet die Intensivstation einer Lungenklinik in Köln. Angesichts steigender Infektionszahlen hat der Mediziner, der außerdem wissenschaftlicher Leiter des Intensivbettenregisters der Fachvereinigung Divi ist, in einem Interview mit der Funke-Mediengruppe vor akuten Personalengpässen in den Kliniken gewarnt. Divi ist die Deutsche Internationale Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin.

Bisher hieß es, die Lage sei entspannt

Zuletzt hatte es von verschiedenen Seiten noch geheißen, die Situation in den Kliniken sei relativ entspannt. Der Münchner Virologe und Epidemiologe Klaus Stöhr hatte Mitte Juni verkündet, es gebe zwar eine Sommerwelle. In den Kliniken gebe es dennoch keine Zunahme an behandelten Patienten, die Situation sei „so entspannt, wie man es nur hoffen konnte für den Sommer“. Stöhr hat im Corona-Expertenrat den ausgeschiedenen Berliner Virologen Christian Drosten ersetzt. Auch Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) hatte bei einer Pressekonferenz am 17. Juni gesagt: „Es ist nicht so, dass wir sorglos und ohne Gegenmaßnahmen dieser Sommerwelle begegnen können.“ Es sei aber auch „kein Alarm notwendig“. Das klingt nun bei Karagiannidis ganz anders.

Das Robert-Koch-Institut (RKI) hat den bundesweiten Sieben-Tage-Wert der Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner am Samstag mit gut 630 angegeben – eine Woche zuvor hatte er bei 450 gelegen, im Vormonat bei 280. Die Inzidenz allein ergibt allerdings noch kein vollständiges Bild der Infektionslage. Experten befürchten derzeit eine Untererfassung der Infektionen. Die Situation könnte sich verschärfen, wenn ab Juli Schnelltests für Nicht-Risikogruppen als sogenannte Bürgertests nicht mehr kostenlos sind.

630 Intensivationen arbeiten am Limit

Von bundesweit 1300 Intensivstationen hätten Mitte Juni rund 580 erhebliche Personalengpässe gemeldet, inzwischen seien es rund 630, so Karagiannidis. „Wir hatten in den vergangenen Jahren noch nie so wenig betreibbare High-Care-Betten zur Verfügung wie derzeit.“ Zuletzt habe der Schnitt bei deutschlandweit rund 8000 gelegen, jetzt seien es 7500. Es sei zu erwarten, dass sich die Lage durch weiter steigende Infektionszahlen und dadurch auch mehr Personalausfälle in den Kliniken weiter verschlechtere.

Vielerorts belasten außerdem Streiks die Versorgung der Patienten: Operationen fallen aus, Stationen sind geschlossen, unter anderem an den sechs Unikliniken in Nordrhein-Westfalen.

Und es gibt weitere Unbill beim Pflegepersonal, wie der Gesundheitsminister vergangene Woche erleben durfte: Zum Auftakt der Gesundheitsministerkonferenz in Magdeburg hatte die Gewerkschaft Verdi am Mittwoch eine Kundgebung von Pflegekräften organisiert, die für mehr Personal demonstrierten. Karl Lauterbach hatte sich an die Demonstranten gewandt, um eine Ankündigung der Verbesserung der Personalbemessung noch vor der Sommerpause zu versprechen. Doch seine Rede, aufgezeichnet von n-tv, ging gründlich in die Hose.

Das Video ging viral, weil Lauterbach darin dezidiert die Demonstranten in zwei Gruppen aufteilt: hier die braven Pflegekräfte, die sich durch die Pandemie geschunden haben, dort ungeimpfte Störfaktoren, die zur Pandemiebekämpfung „nichts beigetragen“ hätten. Lauterbach sagte mehrfach: „Ihre Arbeit hat nichts beigetragen!“ Außerdem warf er den Demonstranten vor, die berechtigten Anliegen der geimpften Pflegekräfte zu stören. Damit sprach er den Demonstranten zu seiner linken Seite ihre eigenen Anliegen ab und vergriff sich dabei im Ton.

Eklat in Magdeburg

Im Netz wurde das Video empört diskutiert, weil aus den Aufzeichnungen nicht ersichtlich war, wen Lauterbach hier meinte. Die Vermutung lag nahe, dass er die angereisten Pflegekräfte in geimpfte und ungeimpfte aufteilte. Hintergrund ist die einrichtungsbezogene Impfpflicht. Seit April müssen Pflegekräfte einen Nachweis der vollständigen Impfung vorlegen. Tun sie das nicht, droht ein Beschäftigungsverbot.

Wie unter anderem Recherchen der Berliner Zeitung ergeben haben, wird diese von Lauterbach forcierte Neuerung jedoch deutschlandweit kaum umgesetzt – vor allem aufgrund des Pflegenotstands. Auch ungeimpfte Pflegekräfte arbeiten deshalb zu großen Teilen weiter in ihren Jobs – wenngleich sich viele von ihnen vor Arbeitsplatzverlust sorgen. Dass ausgerechnet der Gesundheitsminister ungeimpften Pflegekräften nun vorwerfe, sie hätten bei einer Demo gegen Personalnot nichts zu suchen und würden eh nichts zur Pandemiebekämpfung beitragen, sorgte am Donnerstag und Freitag deshalb für zahlreiche Rücktrittsforderungen aus dem Netz.

Bis das Gesundheitsministerium am Freitag auf Nachfrage der Berliner Zeitung aufklärte: Der Minister habe mit seiner Wutrede mitnichten die ungeimpften Pflegekräfte gemeint, sondern eine kleine Gruppe von Impfgegnern. Auch dem Deutschlandfunk hatte Lauterbach mitgeteilt, er habe es „in der Emotion der Lage nicht für angemessen gehalten, dass die Impfgegner lautstark die Demonstration der Pflegekräfte gekapert haben“. Das Gesundheitsministerium stellte klar: Lauterbach habe allen Pflegekräften gedankt, „unabhängig vom Impfstatus“.