800, 1.000, 1.200 und die Inzidenz steigt weiter: Nie haben sich in Deutschland so viele Menschen gleichzeitig mit Corona infiziert wie jetzt in der Omikron-Welle. Und in den Krankenhäusern? Dort scheinen Pflegekräfte und Ärztinnen die Lage gerade noch im Griff zu haben. Doch mit Sicherheit lässt sich das nicht sagen. Das Robert Koch-Institut (RKI) meldet zwar täglich Zahlen, wie stark die Kliniken belastet sind, nur sind die nicht aussagekräftig genug. Nicht nur weil der Meldeweg zu lange dauert, sondern auch weil gleichzeitig wichtige Details fehlen. Das hat nun auch der Corona-Expertenrat der Bundesregierung in einer einstimmig beschlossenen Stellungnahme kritisiert: "Gerade bei der Hospitalisierung zeigt sich das eklatante Defizit der Verfügbarkeit zeitnaher Daten, und zwar bundesweit wie auch regional aufgelöst", schreiben die Fachleute. Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach kündigte vergangenen Freitag an, "in den nächsten Wochen" tagesaktuelle Daten aus den Krankenhäusern zu erheben. 

Denn die Hospitalisierungsrate wird aktuell immer wichtiger. Einerseits, weil die Zahl der täglich gemeldeten Neuinfektionen durch überlastete Labore und Behörden zunehmend unzuverlässiger wird. Andererseits, weil in der Omikron-Welle der Blick auf die Intensivstationen nicht ausreicht. "Die Belastung verlagert sich gerade auf die Normalstationen", sagt Lars Kaderali, Bioinformatiker an der Uni Greifswald, im Gespräch mit ZEIT ONLINE: "Aber dafür fehlen uns aussagekräftige Echtzeitdaten." Diese müssten digital erfasst werden und auch Informationen zum Alter, Impfstatus und Virusvariante der Eingelieferten beinhalten. "Außerdem fehlen uns tagesaktuelle Daten zur Zahl der betreibbaren Betten, für die auch Pflegepersonal vorhanden ist", sagt der Wissenschaftler, der auch im Expertenrat der Regierung sitzt. Auch gut zwei Jahre nach Beginn der Pandemie sind solche Erkenntnisse noch immer nicht aktuell verfügbar.

Die Probleme mit der Hospitalisierungsrate

Das Bundesgesundheitsministerium und das Robert Koch-Institut hatten die Hospitalisierungsinzidenz im Sommer 2021 eingeführt. Als zusätzlicher Leitindikator neben der Inzidenz der Neuinfektionen soll sie die Zahl der ernsthaften, krankenhauspflichtigen Erkrankten abbilden. Die Kliniken sind seither per Bundesverordnung verpflichtet, jede Aufnahme eines coronapositiven Patienten ans Gesundheitsamt zu melden.

Der Indikator stellte sich allerdings schnell als problematisch heraus: Die Krankenhäuser melden die Fälle oft erst verzögert und zudem meist per Fax – bis heute. "Bei uns macht das eine Teilzeitkraft einmal in der Woche", berichtet ein leitender Arzt ZEIT ONLINE. Mitarbeitende der Gesundheitsämter müssen eingehende Faxe also wieder am Rechner abtippen, wodurch kostbare Zeit verloren geht – gerade wenn die Gesundheitsämter bei hohen Fallzahlen sowieso schon überlastet sind und nicht mehr hinterherkommen. 

Zusätzlich berechnet das Robert Koch-Institut die Hospitalisierungsinzidenz nicht anhand des Datums, an dem eine Patientin ins Krankenhaus kommt, sondern an dem sie erstmals als Corona-Fall gemeldet wurde. Zwischen Infektion und tatsächlicher Klinikaufnahme können so mitunter mehrere Tage vergehen. All diese Faktoren führen dazu, dass die tagesaktuell gemeldete Hospitalisierungsinzidenz das tatsächliche Geschehen in den Krankenhäusern deutlich unterschätzt. Erst mit etwa drei Wochen Abstand liegen die meisten Nachmeldungen vor – für eine aktuelle Lageeinschätzung viel zu spät.

Dabei gibt es erhebliche Unterschiede, wie schnell die einzelnen Krankenhäuser ihre Daten übermitteln und wie lange die Gesundheitsämter brauchen, um sie anschließend weiterzuverarbeiten. Wie stark die Hospitalisierungsrate sich von Ort zu Ort unterscheidet, wird im Vergleich der Bundesländer offensichtlich: In Sachsen wird beispielsweise der größte Teil der Infektionen erst mit Verzögerung gemeldet, im Stadtstaat Bremen ist die Zahl der Nachmeldungen hingegen gering.

offizieller Wert

mit Nachmeldungen

Schätzung

Bremen

20 Hospitalisierungsrate

10

Aug

Sep

Okt

Nov

Dez

Jan

Sachsen

20 Hospitalisierungsrate

10

Aug

Sep

Okt

Nov

Dez

Jan

ZEIT ONLINE

Quelle: RKI, Codag/LMU

offizieller Wert

mit Nachmeldungen

Schätzung

Bremen

Sachsen

20 Hospitalisierungsrate

20 Hospitalisierungsrate

10

10

Aug

Sep

Okt

Nov

Dez

Jan

Aug

Sep

Okt

Nov

Dez

Jan

Quelle: RKI, Codag/LMU

ZEIT ONLINE

Im Robert Koch-Institut ist das Problem seit Langem bekannt. Die Behörde berechnet daher einen sogenannten Nowcast: Sie schätzt also mit mathematischen Verfahren, um wie viel sich die aktuellen Werte durch Nachmeldungen später noch erhöhen werden. Aus epidemiologischer Sicht lässt sich die Lage dadurch zwar grob einschätzen, zumindest ein ungefährer Trend lässt sich ablesen. Als amtlicher Indikator, mit dem sich etwa Kontaktbeschränkungen gerichtsfest begründen ließen, taugt eine solche Schätzung allerdings nicht. Zudem ist jede Schätzung immer nur so gut wie ihre Eingangsdaten. Epidemiologen fürchten daher, dass bei einer zunehmenden Überlastung der Krankenhäuser und Gesundheitsämter auch dieser korrigierte Wert an Verlässlichkeit einbüßt.

Aber wäre es überhaupt möglich, die Hospitalisierungsrate besser zu erfassen? Und vor allem: Ließe sich das noch für die aktuelle Omikron-Welle umsetzen? Technisch gibt es verschiedene Systeme, die bereits an die Krankenhäuser angeschlossen sind und über die kurzfristig auch die Hospitalisierungsrate ermittelt werden könnte. Den vollen Anforderungskatalog erfüllt allerdings keine der Alternativen. Was bleibt, wirkt am Ende chaotisch.

Da wäre zunächst das Deutsche Elektronische Melde- und Informationssystem für den Infektionsschutz (Demis), eine Software des RKI. Über sie sollen künftig ohnehin alle meldepflichtigen Infektionskrankheiten an die Bundesbehörde gemeldet werden, noch in diesem Jahr sollen die Systeme umgestellt werden. Die Gesundheitsämter und Labore nutzen die Software bereits. Auch in Krankenhäusern soll Demis künftig eingesetzt werden. Theoretisch ließe sich die Hospitalisierungsrate darüber ohne großen Meldeverzug abfragen. Dafür müssten 1.500 Krankenhäuser Demis aber erst mal installieren, wozu das RKI jeder Klinik ein Zertifikat ausstellen muss. Dass die Software also noch in der Omikron-Welle in der Fläche einsatzbereit wird, ist unwahrscheinlich.