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Nach Hinweisen auf Missbrauch Polizei nicht informiert

Klinik Bethel verteidigt interne Untersuchung

Bielefeld (WB). Der Neurologe, der als  mutmaßlicher Serienvergewaltiger im Evangelischen Klinikum Bethel eine noch nicht bekannte Zahl von Patientinnen missbraucht haben soll, hätte möglicherweise früher gestoppt werden können – wenn das Krankenhaus nach ersten Hinweisen die Polizei informiert oder den Arzt freigestellt hätte. Das Klinikum sieht jedoch keine Schuld bei sich.

Christian Althoff

Im Klinikum Bethel wurden Frauen vergewaltigt.
Im Klinikum Bethel wurden Frauen vergewaltigt.

Im Juli 2019 klagte eine Patientin nachts über Kopfschmerzen und Schüttelfrost und fand später in ihrem Bett eine angebrochene Flasche des Narkosemittels Propofol. Sie übergab das Fläschchen einer Schwester, und seitdem ist dieses Beweisstück verschwunden.

Belastende Aussagen im Jahr 2019

Die Patientin erhob damals im Klinikum Bethel Vorwürfe gegen den Neurologen, und im September 2019 gab es zwei weitere belastende Aussagen von Frauen, die sich in der Klinik über den Assistenzarzt beklagten. Sie glaubten, von ihm betäubt worden zu sein. Heute geht die Staatsanwaltschaft davon aus, dass die Befürchtungen der Patientinnen berechtigt waren und sie in Narkose missbraucht wurden. Wie viele Patientinnen nach dem Fund der Propofol-Flasche noch vergewaltigt wurden, vermag die Polizei noch nicht zu sagen.

Trotz der Hinweise auf den Neurologen sah das Krankenhaus keinen Anlass, die Polizei zu informieren oder den Mann zu beurlauben. Unternehmenssprecherin Sandra Gruß erklärte am Freitag, „im Sinne höchster Aufklärungssorgfalt“ seien „alle erforderlichen Maßnahmen“ eingeleitet worden, um den Vorwürfen nachzugehen. Man habe den Neurologen befragt und den Betäubungsmittelverbrauch der Neurologie überprüft. Das Ergebnis sei ebenso unauffällig gewesen wie das Ergebnis labortechnischer Untersuchungen. Deshalb habe es auch keinen Anlass gegeben, Behörden einzuschalten.

Dagegen gibt die Patientin, die das Mittel in ihrem Bett gefunden hatte, an, dass es bei ihr zumindest im Juli keine Untersuchung von Blut oder Urin auf Propofol gegeben habe.

Dass überhaupt gegen den Arzt ermittelt wurde, geht auf die Anzeige einer Patientin im September 2019 zurück. Allerdings waren die Möglichkeiten der Kripo anfangs eingeschränkt – auch weil die Propofol-Flasche nicht für eine Untersuchung auf Spuren zur Verfügung stand.

Ermittlungskommission hat Opfer über Taten informiert

Eine der Frauen, die sich über den Arzt beklagt hatte, gab bei der Polizei an, der Chefarzt habe zu ihr gesagt, es sei alles in Ordnung, und man müsse ja auch überlegen, ob man einem jungen Mann die Zukunft verbaue. Das Krankenhaus bestreitet, dass diese Worte gefallen sind. „Diese Aussage gab es nicht“, sagte Unternehmenssprecherin Sandra Gruß.

Die Ermittlungskommission „Medicus“ hat unterdessen die ersten Opfer, die sie ausfindig machen konnte, über die Taten informiert.

Klinik ließ Arzt trotz Verdachts seit Juli 2019 weiterarbeiten

Nachdem diese Zeitung am Mittwoch über die Inhaftierung des Neurologen Philipp G. (32) berichtet hatte, gab das Evangelische Klinikum Bethel um 8.34 Uhr eine Pressemitteilung heraus. Man habe, heißt es darin, „im Frühjahr von einer Strafanzeige gegen einen Mitarbeitenden erfahren“ und den Mitarbeiter „mit unmittelbarer Wirkung freigestellt“.

Das klingt, als habe das Krankenhaus sofort und entschlossen gehandelt. Aber so war es nicht. Denn schon im Juli 2019 lagen im Evangelischen Klinikum Hinweise vor, dass der Arzt einer Patientin das Narkosemittel Propofol gegeben haben könnte – ohne jede medizinische Veranlassung. Und im September 2019 gab es zwei weitere Hinweise in diese Richtung. Doch das Krankenhaus ließ den Assistenzarzt weiterarbeiten und informierte nicht die Polizei.

Erst im April 2020 stellte das Krankenhaus den Neurologen frei

Erst als im April 2020 Kriminalbeamte mit einem Durchsuchungsbeschluss im Krankenhaus auftauchten, um auch am Arbeitsplatz des Arztes nach Beweisen zu suchen, stellte das Krankenhaus den Neurologen frei. Er kündigte kurz darauf.

Nach der Durchsuchung im ­April versuchten IT-Experten der Kripo Bielefeld über Monate, verschlüsselte Videos zu öffnen, die sie auf Datenträgern des Arztes entdeckt hatte. Das gelang schließlich Anfang dieser Woche. Die Videos zeigen nach Behördenangaben, wie der Neurologe Patientinnen im Krankenhaus vergewaltigt. Philipp G. kam am Dienstag in Untersuchungshaft und  nahm sich dort in der Nacht zum Donnerstag das Leben.

Soweit bekannt, erhielt das Evangelische Klinikum Bethel den ersten Hinweis auf Unregelmäßigkeiten am 28. Juli 2019. An diesem Tag klingelte eine Patientin einer der beiden Neurologie-Stationen gegen 4 Uhr morgens nach einer Schwester, weil sie sich sehr schlecht fühlte und Schüttelfrost hatte. Ihr Venenzugang zur linken Hand soll herausgerissen auf dem Boden gelegen haben. Stunden später spürte diese Patientin einen Druck im Rücken. Sie fand in ihrem Bett eine angebrochene Flasche des Narkosemittels Propofol Claris 1%, das als Injektion oder als Infusion gegeben werden kann. Die Frau klingelte erneut und übergab einer Schwester, die ungläubig geschaut haben soll, das Fläschchen, und erwähnte dabei angeblich auch ihren schlechten Allgemeinzustand in der Nacht. Bevor sie die Flasche übergab, machte sie mit ihrem Handy aber noch ein Foto, so dass es heute keinen Zweifel an dem Flaschenfund geben kann.


Propofol ist ein Narkosemittel, das nicht unter das Betäubungsmittelgesetz fällt. Deshalb muss über den Verbrauch nicht Buch geführt werden (Archivbild).
Propofol ist ein Narkosemittel, das nicht unter das Betäubungsmittelgesetz fällt. Deshalb muss über den Verbrauch nicht Buch geführt werden (Archivbild). Foto: Imago

Bei der Polizei sagte die Frau später aus, der Assistenzarzt sei kurz nach Mitternacht erschienen und habe sie geweckt. Er habe gesagt, er müsse ihr einen Zugang legen, weil sie Flüssigkeit benötige. Nachdem er die Infusion angeschlossen habe, sei sie sofort weggewesen. Gegen 4 Uhr sei sie ohne Erinnerung aufgewacht, schweißgebadet, frierend und mit starken Kopfschmerzen.

Die Kripo hatte nie die Chance, die Flasche auf Spuren zu untersuchen. Wieviel Propofol daraus fehlte, wer sie angefasst hatte, wie die Chargennummer lautete – das alles bleibt im Dunkeln, denn das Klinikum weiß nach eigenen Angaben nicht, wo die Flasche geblieben ist. Unternehmenssprecherin Sandra Gruß: „Weder die Pflegedienstleitung noch die ärztliche Leitung haben an jenem Tag von der Flasche erfahren.“

Trotz verdächtiger Umstände keine Urinprobe veranlasst?

Trotz der verdächtigen Umstände wurde nach Angaben der Patientin seinerzeit keine Urinprobe veranlasst, um nach Spuren des Narkosemittels zu suchen.

Anfang September wurde die Patientin, die das Popofol gefunden hatte, zu einer Kontrolluntersuchung erneut im Evangelischen Klinikum Bethel aufgenommen. Diesmal lag sie mit einer weiteren Frau in einem Zweibettzimmer.

Nach Angaben der Frauen erschien der Assistenzarzt Philipp G. kurz nach 22 Uhr in ihrem Zimmer und erklärte, er müsse ihnen Zugänge legen. Er hatte allerdings zu dieser Zeit längst Feierabend. Zu seinem späten Erscheinen bei den Frauen erklärt das Krankenhaus heute: „Der Assistenzarzt hat angegeben, er habe noch Arztbriefe schreiben wollen. Dabei sei ihm eingefallen, dass den Frauen noch Zugänge für die MRT-Untersuchung am nächsten Tag gelegt werden mussten.“ Er habe der eigentlich diensthabenden Assistenzärztin angeboten, die Zugänge zu legen, und habe das getan.

Eine der Patientinnen sagte später bei der Polizei aus, der Arzt habe eine Flasche angeschlossen, und schon nach den ersten Tropfen haben sich „das ganze Zimmer gedreht“. Sie habe gefragt, was in der Infusion sei, und der Arzt habe „Kochsalzlösung“ geantwortet. Dann sei sie bewusstlos geworden. Die Bettnachbarin gab an, sie habe den Arzt noch gefragt, ob er sich denn nicht um die bewusstlose Frau kümmern wolle, aber er habe gesagt, bei der Patientin sei so eine Reaktion nicht ungewöhnlich. Dann habe er ihr auch einen Zugang gelegt und eine Flasche angeschlossen, und plötzlich sei sie ebenfalls weggewesen. Sie sei dann mitten in der Nacht schwitzend und mit Schüttelfrost aufgewacht.

Die Frauen hatten ein ungutes Gefühl

Am nächsten Morgen unterhielten sich die beiden Frauen über das Erlebte, und eine erwähnte, sie habe bei ihrem letzten Aufenthalt ein Narkosemittel in ihrem Bett gefunden. Die Frauen hatten ein ungutes Gefühl und informierten eine Schwester. Die erschien dann mit einem Oberarzt, dem die Frauen das Erlebte erzählten. Dabei kam die Sprache auch auf das Propofol, das die eine der Frau im Juli gefunden hatte, und der Oberarzt sah sich das Handyfoto der Flasche an.

Später gab es noch ein weiteres Gespräch, zu dem der Oberarzt und Philipp G. erschienen. Dabei soll der Oberarzt als möglichen Grund für die Bewusstlosigkeit der Frau eine Reaktion auf den Einstich genannt haben, auch eine vielleicht falsche Temperatur der Kochsalzlösung soll er als mögliche Ursache erwähnt haben.

Auf ihre Frage, warum der Assistenzarzt der bewusstlosen Patientin nicht geholfen habe, sollen die Patientinnen keine sie befriedigende Antwort bekommen haben. Sie sei nicht bewusstlos gewesen, sondern nur eingeschlafen, soll Philipp G. gesagt haben.

Klinik aus Angst verlassen

Daraufhin war eine der Patientinnen so verunsichert, dass sie sich noch am selben Tag aus dem Evangelischen Klinikum Bethel entließ – aus Angst, ihr könne dort etwas Schlimmes passieren. Die andere Patientin hatte noch ein Abschlussgespräch mit dem Chefarzt. Er versicherte ihr, der Assistenzarzt sei ein gewissenhafter Mediziner, und es gebe keine Auffälligkeiten im Medikamentenbestand.

Die Patientin, die sich im September 2019 aus Angst selbst entlassen hatte, ging einen Tag später zur Polizei und zeigte den Assistenzarzt an. Es war diese Anzeige, die die Vergewaltigungsserie im Krankenhaus letztlich beendete.

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