S 54 KR 514/21

Land
Niedersachsen-Bremen
Sozialgericht
SG Braunschweig (NSB)
Sachgebiet
Krankenversicherung
1. Instanz
SG Braunschweig (NSB)
Aktenzeichen
S 54 KR 514/21
Datum
2. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
 

Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 12.811,96 € nebst Zinsen in Höhe von 2 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 22. Juni 2021 zu zahlen.

Die Widerklage wird abgewiesen.

Der Streitwert wird auf 25.623,92 € festgesetzt.

Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten über die Vergütung einer Krankenhausbehandlung.

Die bei der beklagten Krankenkasse versicherte G. (im Weiteren: Versicherte) wurde in der Zeit vom 15. März 2017 bis 3. April 2017 im Krankenhaus der Klägerin in Helmstedt stationär behandelt.

Die Klägerin liquidierte mit Rechnung vom 1. Juni 2017 gegenüber der Beklagten die Fallpauschale DRG A36C (Intensivmedizinische Komplexbehandlung…) in Höhe von insgesamt 29.471,29 €. Die Beklagte glich den Rechnungsbetrag ohne Überprüfung durch den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) nur in Höhe von 13.659,33 € aus. Die Strukturvoraussetzungen für OPS 8-980.20 (Intensivmedizinische Komplexbehandlung) seien nicht gegeben.

Die Klägerin hat am 24. März 2021 Klage vor dem Sozialgericht Braunschweig unter dem Aktenzeichen S 56 KR 188/21 erhoben. Die Beklagte sei verpflichtet, den Rechnungsbetrag komplett nebst Zinsen zu zahlen. Am 8. Juni 2021 hat die Beklagte die dortige Hauptforderung nebst Zinsen bezahlt. Die Beklagte hat weder ein Anerkenntnis abgegeben noch sich einer Erledigungserklärung der Klägerin angeschlossen. Dieser Rechtsstreit ist deshalb noch anhängig.

Am 21. Juni 2021 behielt die Beklagte den Betrag von 12.811,96 € von drei unstreitigen Forderungen der Klägerin aus aktuellen Behandlungsfällen ein (Rechnungen vom 14. und 16. Juni 2021). Es sei eine Aufrechnung mit dem öffentlich-rechtliche Erstattungsanspruch wegen ungerechtfertigter Bereicherung nach § 812 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) aus der Zahlung des Behandlungsfalls G.. Der MDK ist nicht eingeschaltet worden.

Die Klägerin hat dagegen am 24. September 2021 zum hiesigen Aktenzeichen Klage erhoben. Die Beklagte sei nicht zur Aufrechnung berechtigt gewesen. Die Aufrechnung sei bereits deshalb rechtswidrig, weil aus dem Sammelzahlungsavis nicht erkennbar sei, ob entsprechend der gesetzlichen Reihenfolge aufgerechnet worden sei. Zudem sei bereits Verjährung eingetreten. Der Behandlungsfall der Versicherten sei ordnungsgemäß abgerechnet worden. Außerdem seien die Formalien des Niedersächsischen Sicherstellungsvertrags und der Prüfverfahrensvereinbarung nicht eingehalten, weil keine MDK-Prüfung stattgefunden habe.

Die Klägerin beantragt,

die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin 12.811,96 € nebst Zinsen in Höhe von 2 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 22. Juni 2021 zu zahlen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen,
hilfsweise, die Klägerin und Widerbeklagte zu verurteilen, an die Beklagte und
Widerbeklagte den Betrag von 10.809,50 € nebst 2 Prozentpunkten Zinsen ab Rechtshängigkeit zu zahlen.

Sie ist der Auffassung, die Klage sei bereits unzulässig wegen doppelter Rechtshängigkeit. Der Ausgangsrechtsstreit S 56 KR 188/21 sei weiterhin anhängig. Auch fehle der Klägerin das Rechtsschutzbedürfnis, da sie ja selbiges Klageverfahren weiter betreiben könne. Zudem sei die Rechnungskürzung zu Recht erfolgt, da die Voraussetzungen für die Abrechnung des strittigen OPS-Kodes 8-980.20 nicht gegeben seien. Die Widerklage sei zulässig und begründet. Der Beklagten stehe ein öffentlich-rechtlicher Erstattungsanspruch zu, da die Behandlung nicht vollständig vom Versorgungsauftrag der Klägerin gedeckt sei und die Abrechnungsvoraussetzungen nach dem Wortlaut des hier strittigen OPS nicht im vollen Umfang von der Klägerin erfüllt werden können.

Wegen der näheren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes und wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakten verwiesen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung und Entscheidungsfindung gewesen sind.

Entscheidungsgründe

Die Klage ist als echte Leistungsklage nach § 54 Abs. 5 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässig.

Bei einer auf Zahlung von Behandlungskosten von Versicherten gerichteten Klage des Krankenhausträgers gegen eine Krankenkasse geht es um einen Parteienstreit im Gleichordnungsverhältnis, in dem eine Regelung durch Verwaltungsakt nicht in Betracht kommt (BSG, SozR 4-2500 § 39 Nr. 1 Rdnr. 6 m.w.N.). Ein Vorverfahren ist nicht durchzuführen, eine Klagefrist nicht einzuhalten.

Die Klage ist nicht wegen doppelter Rechtshängigkeit unzulässig. Klagegegenstand ist hier die Zahlung für die unstreitigen Behandlungsfälle, mit dem der streitige Rückzahlungsanspruch wegen ungerechtfertigter Bereicherung aus dem Behandlungsfall G. aufgerechnet wurde. Das ergibt sich unzweifelhaft aus dem Klageschriftsatz, mit dem die Rechtswidrigkeit der Aufrechnung und damit die Nichtzahlung der unstreitigen Rechnungen gerügt wurde. Klagegegenstand im Verfahren S 56 KR 188/21 ist der unmittelbare Anspruch der Klägerin auf Zahlung der Rechnung für den Behandlungsfall G.. Zwar muss im Rahmen der Prüfung der Aufrechnungslage vorliegend inzident festgestellt werden, ob es eine Rückzahlungsverpflichtung der Klägerin für die von der Beklagten im Jahr 2021 geleistete Zahlung gibt. Das ändert aber nichts daran, dass es um die Zahlung anderer Rechnungen als der für den Behandlungsfall G. geht. Es handelt sich um zwei unterschiedliche Streitgegenstände. So ganz unmissverständlich BSG, Urteil vom 10.11.2021 –B 1 KR 9/21 R-, Rdnr.9.

Das Rechtsschutzbedürfnis der Klägerin entfällt nicht dadurch, dass der Rechtsstreit S 56 KR 188/21 noch anhängig ist. Der Ausgang beider Rechtsstreite ist von unterschiedlichen Faktoren abhängig. So ist z. B. die Prüfung der Aufrechnungslage nur im hiesigen Klageverfahren relevant. Der Klägerin bleibt es frei, unterschiedliche Streitgegenstände mit unterschiedlichen Klagen einzuklagen. Möglicherweise hätte sie mit Zustimmung der Beklagten in S 56 KR 188/21 nach § 99 SGG eine Klageänderung erwirken können. Das hat sie aber nicht gemacht und es gibt dafür auch keine Verpflichtung. Eine Klageänderung auf Verlangen der Beklagten kennt das SGG nicht. Auch keine aufgedrängte Klageänderung von Amts wegen. Die Erklärung der Klägerin, keine Klageänderung zu wollen, muss genauso respektiert werden wie die Erklärung der Beklagten, trotz vollständiger Zahlung kein Anerkenntnis abgeben zu wollen (siehe zum Anerkenntnis BSG, Urteil vom 17.09.2020 –B 4 AS 13/20 R-, Rdnr.23 und 24). Im Verfahren S 56 KR 188/21 ist nur noch die Frage strittig, ob sich das Klageverfahren durch die Zahlung der Beklagten erledigt hat. Eine Rückabwicklung kann die Beklagte nicht erreichen und die Klägerin hat kein Interesse daran, dort klären zu lassen, ob die Zahlung zu Recht erfolgt ist.

Der Einwand der Beklagten, die Zahlung sei nur unter Vorbehalt erfolgt, verfängt nicht.

Die Beklagte kann nicht in einem laufenden Klageverfahren den auf Zahlung gerichteten Klageanspruch ausgleichen und behaupten, es handele sich nur um eine Zahlung unter Vorbehalt mit der Folge, dass der Rechtsstreit fortgeführt werden müsse und zugleich behaupten, aus der Zahlung resultiere ein Anspruch aus ungerechtfertigter Bereicherung aus dem ein Recht zur Aufrechnung mit einem anderen Behandlungsfall resultiere (und von diesem Recht Gebrauch machen).

Die Klage ist auch begründet. Die Klägerin hat gegenüber der Beklagten einen Anspruch auf Zahlung von 12.811,96 € für die bei anderen Versicherten erbrachte Krankenhausbehandlung.

Zwischen den Beteiligten ist nicht streitig, dass der Klägerin aufgrund der drei unstreitigen Behandlungsfälle zunächst ein Anspruch auf die dort abgerechnete Vergütung zustand. Eine nähere Prüfung erübrigt sich insoweit (vgl. zur Zulässigkeit dieses Vorgehens BSG, Urteil vom 01. Juli 2014 – B 1 KR 24/13 R –, SozR 4-2500 § 301 Nr 2, Rdnr. 8, m.w.N.).

Der unstreitige Anspruch der Klägerin auf Vergütung für die Krankenhausbehandlung dieser anderen Versicherten erlosch nicht dadurch, dass die Beklagte mit dem hier strittigen Erstattungsanspruch wegen Überzahlung der Vergütung für die Krankenhausbehandlung der Versicherten aufrechnete.

Die von der Beklagten erklärte Aufrechnung ist unwirksam. Die Voraussetzungen des § 387 BGB liegen nicht vor. Der Vergütungsanspruch der Klägerin und der von der Beklagten aufgerechnete öffentlich-rechtliche Erstattungsanspruch sind zwar dem Grunde nach gegenseitig und gleichartig, der öffentlich-rechtliche Erstattungsanspruch war aber gar nicht entstanden und deshalb auch nicht fällig. Deshalb kann es auch dahingestellt bleiben, ob der Algorithmus des Rechenprogramms der Beklagten die gesetzlich richtigen Fälle für die Aufrechnung herausgefunden hat.

Der Beklagten steht der behauptete öffentlich-rechtliche Erstattungsanspruch wegen ungerechtfertigter Bereicherung nach § 812 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) nicht zu.

Wer durch die Leistung eines anderen auf dessen Kosten etwas ohne rechtlichen Grund erlangt, ist ihm gemäß § 812 Satz 1 BGB zur Herausgabe verpflichtet. Diese Verpflichtung besteht gemäß § 812 Satz 2 BGB auch dann, wenn der rechtliche Grund später wegfällt.

Die Beklage hat an die Klägerin Anfang 2021 als Restzahlung auf die Rechnung der Klägerin vom 1. Juni 2017 (Behandlungsfall G.) den eingeklagten Betrag von 12.811,96 € gezahlt.

Dazu war sie nach § 13 Absatz 6 Satz 1 des Niedersächsischen Krankenhaussicherstellungsvertrags von 1992 verpflichtet. Das ist ständige Rspr. der erkennenden Kammer.

§ 13 Abs. 6 Nds.SV regelt in Satz 1 eindeutig, dass die Krankenkasse die Rechnung unverzüglich, spätestens innerhalb von 14 Tagen nach Rechnungsdatum zu bezahlen hat. Dieser vertraglichen Verpflichtung ist die Beklagte zunächst nicht (vollständig) nachgekommen. Auf die Frage der rechnerischen oder sachlichen Richtigkeit der Rechnung kommt es deshalb hier nicht an.

Der Nds.SV ist auch für die Beteiligten unmittelbar gültig. Zwar heißt es in der Einleitung des Vertrags: „Die niedersächsische Krankenhausgesellschaft und……, der AOK-Landesverband Niedersachsen,…….. schließen folgenden Vertrag“. Die Beklagte gehörte als AOK mit Sitz in Sachsen-Anhalt nicht zum AOK-Landesverband Niedersachsen. Dennoch ist sie bei Behandlungen ihrer Versicherten in einem niedersächsischen Krankenhaus den Regelungen des Nds.SV unterworfen. Dies ergibt sich bereits aus § 112 Abs. 2 Satz 2 SGB V. Dort heißt es, dass die entsprechenden Verträge für die Krankenkassen und die zugelassenen Krankenhäuser im Land unmittelbar verbindlich sind. Die Verträge gelten deshalb für alle zugelassenen Krankenhäuser im jeweiligen Land und für die (gesetzlichen) Krankenkassen (unabhängig von deren Sitz).

Zu diesem Ergebnis ist bereits das Bundessozialgericht in einem Urteil vom 21. August 1996 – 3 RK 2/96 – gekommen. In Bezug auf einen Sicherstellungsvertrag aus Baden-Württemberg heißt es dort unter Rn. 20: „Der SV vom 14. November 1986 war im streitigen Zeitraum auch für die beklagte hessische AOK verbindlich, obwohl weder sie noch ein übergreifender Verband, etwa der AOK-Bundesverband, vertragsschließende Partei war, sondern der AOK-Landesverband eines anderen Bundeslandes. Denn ähnlich wie bei den Landesverträgen zwischen KKn/ErsKn einerseits und Apothekerverbänden andererseits (§ 129 Abs 5 SGB V - vgl dazu Urteil des Senats vom 17. Januar 1996, 3 RK 26/94 = SozR 3-2500 § 129 Nr 1) ist auch hier davon auszugehen, dass der Gesetzgeber mit der Regelung in § 112 Abs 1 SGB V eine Verbindlichkeit des SV länderübergreifend für diejenigen jeweiligen KKn mitangestrebt hat, die den vertragschließenden KKn in Baden-Württemberg entsprechen. Denn auch hier kann nicht angenommen werden, dass der Gesetzgeber, dem die hohe berufliche und private Mobilität der Bevölkerung auch 1986 schon bekannt war, das Verhältnis zwischen den Krankenhäusern in Baden-Württemberg und den KKn außerhalb dieses Bundeslandes allein auf der Basis einer Geschäftsführung ohne Auftrag hat abwickeln wollen. Entsprechendes gilt für den Willen derjenigen Vertragsparteien, die den Vertrag vom 14. November 1986 geschlossen haben.“ In ständiger Rechtsprechung hat das BSG dies bestätigt (z. B mit Urteil vom 16.05.2018, B 6 KA 45/16 R).

Bereits mit Urteil vom 23.07.2002 (B 3 KR 64/01 R) hat das BSG zu einer dem § 13 Abs. 6 Nds. SV inhaltsgleichen Regelung des Rheinland-Pfälzischen KBV von 1991 entschieden, Zweifel an der Krankenhausrechnung würden der Krankenkasse kein Recht geben, die Zahlung (des Differenzbetrags) zu verweigern, bis diese Zweifel ausgeräumt sind. Der Behandlungspflicht des § 109 Abs. 4 Satz 2 SGB V steht der Vergütungsanspruch gegenüber. Auch Scholz in jurisPK-SGB V (Schlegel, Engelmann, Voelzke) fasst in der Kommentierung zu § 275c SGB V unter Rdnr. 8 zusammen: „…ist es einer Krankenkasse nicht gestattet, bei beanstandeten Rechnungen lediglich den unbestrittenen Teil der Forderung gleichsam als Vorschusszahlung unter Zurückbehaltung des bestrittenen Anteils bis zur abschließenden Klärung zu leisten“.

Auch der Bundesgesetzgeber hat mittlerweile dem Grundsatz der Krankenhausliquiditätsgewährleistung zweifach Rechnung getragen.

Erstens wurde die unbedingte Zahlungsverpflichtung gesetzlich geregelt. In dem vom 27. März 2020 bis 19. Oktober 2020 geltenden § 330 SGB V und im ab 20. Oktober 2020 geltenden § 417 SGB V (ab 9. Juni 2021 § 415 SGB V) heißt es jeweils in den Sätzen 1, dass die von den Krankenhäusern erbrachten und in Rechnung gestellten Leistungen von den Krankenkassen innerhalb von fünf Tagen nach Rechnungseingang zu bezahlen sind.

Zweitens wurde die Möglichkeit der Aufrechnung für Behandlungsfälle ab 2020 bis auf wenige Ausnahmen gestrichen (§ 109 Absatz 6 SGB V). Das hätte nicht geregelt werden müssen, wenn es keine unbedingte Zahlungspflicht nach Rechnungserteilung gäbe.

Die Beklagte konnte und kann sich nicht darauf berufen, sie müsse nicht zahlen, wenn die Rechnung fehlerhaft ist. Für solche Fälle steht ihr gemäß § 13 Abs. 6 Satz 5 Nds.SV die Möglichkeit der Verrechnung (korrekt: Aufrechnung) zur Verfügung. Auch der darauf folgende Einwand, nach jahrtausendealten Rechtsgrundsätzen müsse nichts gezahlt werden, was unmittelbar danach wieder zurückgezahlt werden müsse, verfängt nicht. Dieses Verbot der unzulässigen bzw. arglistigen Rechtsausübung (dolo agit…) ist hier nicht einschlägig. Die Regelung in § 13 Abs. 6 Satz 5 Nds.SV wäre sonst überflüssig. Insofern unterscheidet sich das System der Krankenhausabrechnung erheblich vom Zivilrecht zwischen Privatparteien. Die vertraglichen Abweichungen vom Recht des BGB sind unzweifelhaft zulässig. Im Übrigen ist schon fraglich, ob der Einwand der unzulässigen Rechtsausübung erhoben werden könnte. Zur Rückzahlung wäre die Klägerin nämlich nicht unmittelbar verpflichtet, sondern erst nach Feststellung der Fehlerhaftigkeit der Rechnung. Das ist regelmäßig ein Zeitpunkt nach Prüfung durch den MDK.

Das Argument der Beklagten, die Fehlerhaftigkeit einer Rechnung führe per se dazu, dass sie nicht fällig sei, führt zu keinem anderen Ergebnis. § 13 Abs. 6 Satz 1 Nds.SV definiert die Fälligkeit nur nach dem Datum. Auch aus §§ 330, 417, 415 SGB V ergibt sich nichts Anderes. Dafür, dass Fälligkeit der Rechnung nicht eingetreten ist, weil der Datensatz nach § 301 SGB V nicht vollständig gewesen war, gibt es keine Anhaltspunkte.

Möglicherweise könnten die Einwände verfangen, wenn die Fehlerhaftigkeit der Rechnung auf der Hand liegen würde, also offenkundig ist. Ein Beispiel dafür wäre die Abrechnung der Fallpauschale O60A bei einem Mann. Solche offenkundigen Fehler dürften aber extrem selten sein und müssen wohl kaum vor Gericht streitig ausgefochten werden. Hier ist das jedenfalls nicht der Fall, denn im (materiellrechtlichen) Streit ist die Frage, ob die Voraussetzungen für die Abrechnung von neurologischen Komplexleistungen vorliegen. Das Ergebnis dieses Streits ist in Anbetracht der bereits in der Bezeichnung der Fallpauschale und des OPS angelegten Komplexität keinesfalls offenkundig. Zahlreiche Rechtsstreite sind vor dem Sozialgericht Braunschweig dazu anhängig.

Die Zahlungsanspruchsgrundlage des § 13 Abs. 6 Satz 1 Nds.SV würde völlig leerlaufen, wenn der Einwand der fehlerhaften Rechnung den Zahlungsanspruch ausschließen würde. Der zwischen den Krankenkassen und den Krankenhäusern geschlossene „Vertrag zu den Bereichen des § 112 Abs. 2 Ziffer 1,2,4 und 5 SGB V“ wird nicht umsonst von allen Beteiligten „Sicherstellungsvertrag“ genannt. Seine Regelungen sollen nämlich die Krankenhäuser vor Liquiditätsengpässen schützen und damit die Krankenhausversorgung der Versicherten sicherstellen. Diesem Schutzgedanken widerspricht es, den Krankenkassen die Deutungshoheit über die Richtigkeit einer Krankenhausrechnung und damit die Berechtigung zur Zahlungsverweigerung von Anfang an zuzuschreiben. Die Zahlungsregelung ist auch Ausgleich für die unbedingte Verpflichtung der Krankenhäuser zur medizinischen Versorgung der Versicherten. Die Krankenhäuser gehen als Leistungserbringer in Vorleistung und müssen dafür die Sicherheit haben, ihre Rechnungen zunächst ausgeglichen zu bekommen.

Wenn die am Krankenhaus-Vergütungssystem Beteiligten eine andere Zahlungsregelung wollten, könnten Sie dies vertraglich vereinbaren. Seit nunmehr fast 30 Jahren scheint es dafür aber keine Veranlassung gegeben zu haben. Ob eine vertragliche Regelung entgegen § 415 SGB V überhaupt möglich wäre muss hier nicht entschieden werden.

Diese sich aus alledem ergebende Zahlungsverpflichtung sieht mittlerweile auch die Beklagte. Die Zahlung im Klageverfahren S 56 KR 188/21 erfolgte unter Hinweis auf die Rechtsprechung der erkennenden Kammer und deren Bestätigung durch die zuständigen Senate des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen.

§ 812 Satz 1 BGB ist also nicht einschlägig.

Der rechtliche Zahlungsgrund ist auch nicht später weggefallen (§ 812 Satz 2 BGB). Das könnte nur der Fall sein, wenn sich nach Einhaltung aller zwischen den Beteiligten geltenden Abrechnungsbestimmungen und Abrechnungsprüfungsformalien die Fehlerhaftigkeit der Rechnung und eine sich daraus resultierende Rückzahlungsverpflichtung ergeben würde. Das ist nicht der Fall.

Die von der Klägerin zu beanspruchende Krankenhausvergütung bemisst sich nach vertraglichen Fallpauschalen auf gesetzlicher Grundlage. Rechtsgrundlage ist (für den Behandlungsfall Helga Lisson) § 109 Abs. 4 Satz 3 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) i.V.m. §§ 7 Abs.1, 9 Abs. 1 Krankenhausentgeltgesetz (KHEntgG) und § 17 b Krankenhausfinanzierungsgesetz (KHG), die Vereinbarung zum Fallpauschalensystem für das Jahr 2017 sowie der Niedersächsische Sicherstellungsvertrag vom 1. November 1992 (SV) in der Fassung vom Juni 1996. Im Zahlungsverkehr zwischen den Beteiligten ist der SV und die „Vereinbarung über das Nähere zum Prüfverfahren nach § 275 Absatz 1c SGB V (Prüfverfahrensvereinbarung – PrüfvV) gemäß § 17c Absatz 2 KHG“ in der ab 01.01.2017 gültigen Fassung zu beachten.

Danach war der stationäre Krankenhausaufenthalt der Versicherten von der Klägerin mit der Fallpauschale DRG A36C in Höhe von insgesamt 29.471,29 € abgerechnet worden. Unstreitig enthält der Datensatz nach § 301 SGB V alle erforderlichen Daten.

Wenn die Beklagte Zweifel an der Richtigkeit der von der Klägerin in das Programm zur Berechnung der Fallpauschale (Grouper) eingegebenen Daten hatte, hätte sie den Medizinischen Dienst (MDK, seit 2021 MD) einschalten müssen.

§ 275 Absatz 1 Satz 1 SGB V bestimmt in allen seit 01.01.2012 gültigen Fassungen, dass die Krankenkassen in den gesetzlich bestimmten Fällen oder wenn es nach Art, Schwere, Dauer oder Häufigkeit der Erkrankung oder nach dem Krankheitsverlauf erforderlich ist, verpflichtet ist, (Nr.1) bei Erbringung von Leistungen, insbesondere zur Prüfung von Voraussetzungen, Art und Umfang der Leistung, sowie bei Auffälligkeiten zur Prüfung der ordnungsgemäßen Abrechnung eine gutachtliche Stellungnahme des Medizinischen Dienstes einzuholen. Es liegt ein gesetzlich bestimmter Fall gemäß § 275 Absatz 1 Satz 1 (ganz am Anfang) SGB V vor. § 275 Absatz 1c Satz 1 SGB V (gültig bis 31.12.2019) besagt: „Bei Krankenhausbehandlung nach § 39 ist eine Prüfung nach Absatz 1 Nr. 1 zeitnah durchzuführen.“

Die Beklagte ist ihrer Verpflichtung zur Einholung einer gutachtlichen Stellungnahme des Medizinischen Dienstes bis heute nicht nachgekommen. Sie ist deshalb mit allem medizinischen Vorbringen gegen die Richtigkeit der Krankenhausabrechnung präkludiert. Das ergibt sich aus der aktuellen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts. Wenn jegliches Vorbringen des Krankenhauses auf der Grundlage von Patientenunterlagen, die dem MDK nicht rechtzeitig auf Aufforderung vorgelegt wurden präkludiert ist muss das aus Gründen der prozessualen Waffengleichheit auch für die Krankenkassen gelten, wenn sie den MDK gar nicht erst beauftragt haben. Die Krankenkasse kann dann gegen die Richtigkeit der Krankenhausrechnung nur nichtmedizinische Gründe (z. B. Rechenfehler, offenkundige Zahlendreher, falsche Patientendaten und reine Rechtsfragen) vorbringen.

Das Argument, OPS 8-980.20 dürfe von der Klägerin nicht abgerechnet werden, weil die Strukturvoraussetzungen nicht gegeben seien, ist kein rein rechtliches Argument. Ohne medizinische Expertise nach Prüfung der Patientenakte lässt sich nicht feststellen, ob die erforderlichen Mindestvoraussetzungen des OPS 8-980.20 während der Behandlungszeit (und nur darauf kommt es -2017- an) erfüllt waren.

Die beklagte Krankenkasse kann sich nicht darauf berufen, die Klägerin rechne in einer großen Vielzahl unberechtigterweise Komplexbehandlungen ohne Erfüllung der Strukturvoraussetzungen ab. Allgemeine Strukturvoraussetzungen kennen die Abrechnungsbestimmungen 2017 noch nicht, nur Mindestvoraussetzungen für die Zeit der jeweiligen Krankenhausbehandlung. Selbst wenn das so sein sollte, dass die Mindestvoraussetzungen in einer Vielzahl von Abrechnungsfällen nicht vorlagen, entbindet es die Krankenkasse nicht von der Verpflichtung, den MDK mit der Prüfung des konkreten Falles aus dem Jahr 2017 zu beauftragen. Zwar ist die Anzahl der Prüfaufträge durch die in § 275c SGB V festgelegten Prüfquoten begrenzt. Die Vorschrift gilt aber erst seit 01.01.2020 und ist von den Beteiligten auch zu beachten, wenn sie sie für falsch halten.

Da keine MDK-Begutachtung stattgefunden hat kann sich die Beklagte nicht auf den Wegfall der Zahlungsverpflichtung berufen.

Auf den von der Klägerin vorgebrachten Einwand der Verjährung kommt es nach alledem nicht mehr an. Er wäre aber unbeachtlich gewesen, denn Verjährungsbeginn wäre das Datum der (ursprünglich streitigen) Restzahlung gewesen. Das war 2021. Die zweijährige Verjährung des § 109 SGB V war also bei der Aufrechnung am 22. Juni 2021 noch lange nicht abgelaufen.

Die Verzinsung ergibt sich aus § 13 Abs. 7 Nds.SV, der Zinsbeginn aus § 415 Satz 1 SGB V in der ab 9. Juni 2021 gültigen Fassung vom 3. Juni 2021, wobei auf die Rechnungen abzustellen ist, mit denen die Beklagte aufgerechnet hat, denn diese sind es, die nicht vollständig beglichen wurden. Diese sind vom 14. und 16. Juni 2021. Verzinsungsbeginn ist also mindestens der beantragte 22. Juni 2021.

Ob die Widerklage zulässig ist kann dahingestellt bleiben. Sie ist jedenfalls unbegründet.

Der mit der Widerklage geltend gemacht Anspruch muss zwar im Zusammenhang mit dem Klageanspruch stehen. Er darf aber nicht deckungsgleich sein. Ob Letzteres der Fall ist lässt sich dem Vorbringen der Widerklägerin nicht eindeutig entnehmen. Die Zulässigkeit einer für den Fall der Klageabweisung erhobenen Widerklage ist umstritten.

Die Widerklage ist unbegründet, weil der von der Widerklägerin geltend gemachte öffentlich-rechtliche Erstattungsanspruch nicht besteht (siehe oben). 

Die Kostenentscheidung beruht auf § 197 a Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. § 154 Abs. 1 Verwaltungsgerichtsordnung.

Die Entscheidung über den Streitwert folgt aus § 197 a Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. § 63 Abs. 2, § 52 Abs. 1 und 3 Gerichtskostengesetz, wobei der Streitwert von Klage und Widerklage zusammenzurechnen waren.

Rechtskraft
Aus
Saved