Herr Riexinger, Thema Corona: Hätten Sie sich je vorstellen können, dass gegen die Kapitalinteressen weltweit derart gravierende Maßnahmen zum Schutz von Menschenleben veranlasst werden?
Ich hätte das so nicht vermutet. Und es gibt auch große Unterschiede. Wenn wir etwa auf die USA oder Brasilien blicken, also da, wo rechte oder rechtspopulistische Kräfte an der Regierung sind, wird eben nicht alles zum Schutz der Menschen getan. Aber insgesamt ist es ein positives Zeichen, dass der Gesundheitsschutz in den meisten Ländern an erster Stelle gesetzt wurde.
Nun wird hierzulande viel darüber diskutiert, wie es weitergeht. Ihre Ko-Vorsitzende Katja Kipping spricht immer wieder von der "Lockerungslobby". Was ist denn das?
Damit sind jene Kräfte gemeint, etwa aus der FDP und der AfD, die zu einem sehr frühen Zeitpunkt die kurzfristigen wirtschaftlichen Interessen über die Gesundheit gestellt haben. Wobei das auch aus ökonomischer Sicht falsch war. Experten sagen uns, dass zu schnelle Lockerungen zu Rückschlägen führen können, die neue Beschränkungen nötig machen würden. Das wäre wiederum für die Wirtschaft belastender, als wenn man nach und nach die Lockerungen zulässt.
Sie und Frau Kipping sind vorsichtiger als die Länderchefs – zu denen auch der Linke Bodo Ramelow gehört. Wissen Sie mehr als andere?
Darum geht es nicht. Wir sind keine Virologen, bewerten aber die Risiken, die zu schnelle Lockerungen mit sich bringen, anders als manche Ministerpräsidenten. Darüber hinaus kümmern wir uns in erster Linie um die sozialen Aspekte der Krise und stehen an der Seite der Pflegerinnen und Pfleger, die endlich anständig bezahlt werden sollen, an der Seite der Arbeitnehmer, denen Einkommensverluste oder gar Arbeitslosigkeit droht und treten für verbesserten Mieterschutz ein.
Sie sind Mitautor eines Strategiepapiers, in dem Sie auf die gigantische Rezession hinweisen, die auf uns zukommt. Auch darauf, dass Armut krank macht. Ist der Preis, der für die Corona-Maßnahmen gezahlt wird, zu hoch?
Man muss darauf achten, dass die Bevölkerungsgruppen, die besonders unter den Einschränkungen leiden, nicht auch noch wirtschaftlich unter die Räder kommen. Deswegen sagen wir: Eine Verkäuferin, die maximal 1300 Euro netto im Monat hat, wird mit einem Kurzarbeitergeld von 60 oder 67 Prozent nicht über die Runden kommen. Und wenn dann auch noch die Arbeitslosigkeit droht, wird es zum existenziellen Drama.
Sie haben immer wieder die Privatisierungen im Gesundheitswesen beklagt - aber das deutsche Gesundheitswesen hat sich in der Krise bestens bewährt. Oder nicht?
Ja, die Corona-Krise wird ganz gut bewältigt. Aber das geht nur deshalb, weil viele andere Behandlungen ausgesetzt wurden. Operationen wurden verschoben und die Menschen sind häufig nicht mehr zum Arzt gegangen. Die Krankenhausschließungen und die Privatisierungen haben dazu geführt, dass die Entscheidung zwischen Pandemiebekämpfung und Regelbetrieb getroffen werden musste. Beides zusammen hätte das Gesundheitswesen überlastet.
Sie wollen Krankenhäuser ausschließlich in öffentlicher Hand?
Es ist falsch, Krankenhäuser zu betriebswirtschaftlichen Einheiten zu machen, die sich vor allem rechnen müssen. Deswegen wurde in den Krankenhäusern Personal eingespart. Und bei der Pflege ist es noch schlimmer. Wir haben dreimal so viel Patienten pro Pflegekraft wie in Norwegen und doppelt so viel wie in Holland.
In Ihrem Strategiepapier fragen Sie, wer die Kosten der Krise trägt. Wonach sieht es denn aus?
Die Kosten sind gigantisch und zu befürchten ist, dass wieder Rentner, Arbeitnehmer und Erwerbslose zur Kasse gebeten werden. Das wollen wir unbedingt verhindern und plädieren für eine Vermögensabgabe für Millionäre und Milliardäre von mindestens 10 Prozent.
Das ist doch eher ein symbolischer Akt.
Eine fünfprozentige Vermögenssteuer bei Freibeträgen von einer Million und 5 Millionen bei Betriebsvermögen würde dem Staat jährlich zwischen 80 und 100 Milliarden Euro mehr bringen. Wenn sie bedenken, dass bei der Tilgung der Kosten über 20 Jahre gesprochen wird, dann kommen sie schon in die Größenordnung.
Die Lufthansa wird gerettet, die Bahn bekommt Geld und eigentlich alle großen Firmen, Ist das aus Ihrer Sicht der richtige Weg?
Natürlich brauchen wir ein Investitionsprogramm. Aber wir brauchen ganz sicher keine Abwrackprämie…
Der DGB ist dafür.
…Ja. Und die IG-Metall auch. In Gesprächen wurde mir gesagt, sie wollen schon auch einen Nachhaltigkeitsfaktor einbauen. Ich finde aber, wir müssen gelernt haben, dass Abwrackprämien für Autos nur kurzfristig, wenn überhaupt, etwas bringen. Die deutsche Automobilindustrie war schon vor Corona in der Krise. Wir brauchen eine Verkehrs- und Mobilitätswende. Die Klimaprobleme sind ja nicht verschwunden, nur weil Corona da ist. Wir stehen für ein Mobilitätskonzept mit dem Arbeitsplätze und das Klima geschützt werden, nicht die Profite der Autokonzerne.
Die Lufthansa wird weiter Inlandsflüge anbieten.
Und das geht so nicht. Ich bin ja für die Rettung. Aber dass der Staat den doppelten Börsenwert bezahlt und dafür einen mickrigen Anteil von 20 Prozent erwirbt, es keine Auflagen für Beschäftigung und Umweltschutz gibt, das ist schon ein Skandal.
Sie sehen drei Wege für die Zukunft: Autoritärer Kapitalismus, Modernisierung des Kapitalismus oder sozial-ökologischer Systemwechsel. Sehen Sie für die dritte Variante irgendwo, irgendwelche Ansätze?
Es gibt derzeit keine politischen Mehrheiten für einen linken Green New Deal. Aber es gibt durchaus ein geändertes Bewusstsein in der Bevölkerung. Eine Mehrheit ist zum Beispiel gegen die Abwrackprämie. Aber der gesellschaftliche Druck reicht für eine wirkliche Veränderung noch nicht aus.
Was ist denn links an Ihrem Green New Deal?
Wir wollen erreichen, dass sich die Menschen nicht zwischen ihrem Arbeitsplatz und dem Kampf gegen die Erderwärmung entscheiden müssen. Das wollen wir zusammenbringen. Es kann keinen Klimaschutz ohne soziale Gerechtigkeit geben und keine soziale Gerechtigkeit ohne Klimaschutz.
Und das ist der Unterschied zu dem, was die Grünen wollen?
Vor allem bleiben die Grünen bei der Finanzierung des Klimaschutzes vage. Wir wollen ein anderes Steuersystem und eine Belastung der Reichen. Die Grünen wollen eher mit den DAX-Konzernen paktieren. Grundsätzlich haben wir aber mit den Grünen in der Umweltfrage Gemeinsamkeiten.
Wie sehen Sie denn die Chancen für einen Machtwechsel in Deutschland? Wie weit sind die Gespräche über Rot-Rot-Grün im Bund? Wird das Projekt vorbereitet?
Wir brauchen erst einmal gesellschaftliche Mehrheiten für einen Systemwechsel. Bündnisse mit Umweltverbänden und Gewerkschaften. Eine Regierungskoalition ist nicht der alleinige Weg. Ich freue mich, dass die SPD auf uns zugeht. Die Grünen dagegen wollen sich weiter alle Optionen offenhalten. Wie sie mit der CDU ihre ökologischen Ziele durchsetzen wollen, ist mir zwar schleierhaft. Aber die Aufgabe von Prinzipien wäre ja nicht neu bei den Grünen. Siehe Autolobbyist Winfried Kretschmann. Deswegen ist der außerparlamentarische Druck so wichtig.
Und wenn die Grünen bei Rot-Rot-Grün den Kanzler oder die Kanzlerin stellen könnten?
Dann würden sie es noch schwerer haben, eine Partnerschaft mit der CDU zu erklären. Aber ich glaube nicht, dass die Grünen bei der nächsten Bundestagswahl vor der SPD liegen werden.
Es gibt eine parteiinterne Auseinandersetzung, in der es um die Frage geht, wessen Interessen die Linken eigentlich vertreten wollen. Wie würden Sie die Frage beantworten?
Ich glaube, dass die Linke zuallererst eine Partei der Lohnabhängigen, der Rentner und Arbeitslosen sein muss. Ich bin auch für den Begriff der ArbeiterInnenklasse. Allerdings gehören zu dieser Klasse heute Menschen im Dienstleistungsgewerbe, im Gesundheitswesen, bei Amazon und in ähnlichen Bereichen. Das ist heute die Mehrheit der Beschäftigten.
Aber darum ging und geht der Streit nicht.
Doch.Teile dieser Menschen wurden da als urbanes Milieu bezeichnet, für das die Linke nicht zuständig sei. Und gerade in diesem Bereich sind wir besonders stark. Es stimmt auch nicht, dass sich die Erzieherin nur für ihren Arbeitsplatz interessiert. Die interessiert sich auch für Klima und Migration. Wir müssen das zusammenbringen.
Sie wollen derzeit noch nicht sagen, ob Sie bei dem verschobenen Parteitag noch einmal für den Parteivorsitz kandidieren wollen. Tatsächlich ist für Sie aber kein Nachfolger in Sicht. Müssen Sie und Frau Kipping sich den Vorwurf gefallen lassen, die Nachfolgerfrage vernachlässigt zu haben?
Falls wir nicht mehr antreten sollten, werden wir die Nachfolgefrage geregelt haben. Darauf können Sie sich verlassen. Andernfalls stellt sich die Frage nicht. In jedem Fall haben wir genügend gute Leute und auch auf der Führungsebene kein Nachwuchsproblem.
Und haben Sie sich selbst schon entschieden?
Ja. Aber wir werden uns erst Ende August äußern. Wir wollen einfach keine frühzeitige Personaldebatte. Und damit ist der Parteivorstand einverstanden.
Aber Sie machen den Job immer noch gern.
Absolut. Und Sie sehen ja, wir nehmen die Strategiedebatte auf, und stellen Weichen für die Entwicklung zu einer sozialistischen Mitgliederpartei und für die nächste Bundestagswahl.
Vielen Dank für das Gespräch.

Zur Person

Bernd Riexinger wurde 1955 im westlich von Stuttgart gelegenen Leonberg geboren. Riexinger stammt aus einer Arbeiterfamilie, wurde zum Bankkaufmann ausgebildet und arbeitete bei der Leonberger Bausparkasse. Von 1980 bis 1990 war er dort freigestellter Betriebsrat. Danach war er Gewerkschaftssekretär bei ver.di. Zur Linkspartei kam er über die WASG. 2012 wurde er in Göttingen Parteivorsitzender der Linken.