Ein Vater kümmert sich auf der Intensivstation der Kinderklinik im St. Joseph-Krankenhaus um sein Kind.
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Ein Vater kümmert sich auf der Intensivstation der Kinderklinik im St. Joseph-Krankenhaus um sein Kind.

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Keine Statistik belegt Kinder-Sterbefälle wegen Personalmangels

Die Versorgungslage in deutschen Kinderkliniken beschreiben viele als schlecht: Es gibt zu wenig Personal. Doch müssen Kinder sterben, weil sie nicht versorgt werden können? Dafür gibt es keine Belege. Ein #Faktenfuchs.

Darum geht es:

  • Ja, die Lage in Deutschlands Kinderkliniken und Kinder-Intensivstationen ist prekär. Es fehlen Fachkräfte und Kinder können zu Schaden kommen, das bestätigen viele Experten.
  • Nein, es gibt keine konkreten Zahlen, mit denen sich die Aussage belegen ließe, dass Kinder aufgrund von Fachkräftemangel sterben.

Viele Ärzte beschreiben die Lage in den Kinderkliniken als kritisch: Es fehlen Fachkräfte, dadurch können Betten nicht belegt werden, riskante Verlegungen sind nötig, nicht alle Kinder können optimal versorgt werden. Doch eine Aussage geht darüber hinaus: "Kinder sterben, weil sie nicht versorgt werden können." Dieser Satz fällt in Interviews und auf Pressekonferenzen.

Ein Satz, der für viele das Schlimmste bedeutet - den regelmäßigen und dabei vermeidbaren Tod von Kindern. Diese Aussage birgt das Potenzial, große Ängste zu schüren. Doch die Recherche des BR24 #Faktenfuchs zeigt: Während die bestmögliche Versorgung der Patienten auf vielen Kinderstationen durchaus oft gefährdet ist, gibt es für diese Behauptung keine belastbaren Beweise.

Dennoch wiederholt ein Arzt diese Behauptung seit Jahren: Michael Sasse, leitender Oberarzt der Kinderintensivmedizin an der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) in Niedersachsen. Bei ihm landen viele schwerstkranke Kinder, vor allem aus dem Norden Deutschlands, da auf dieser Intensivstation Behandlungen möglich sind, die viele andere Kliniken in der Region nicht anbieten. Seine Station muss immer wieder Kinder ablehnen, weil es nicht genügend Kinderpflegekräfte gibt.

Schon 2019 sagte Sasse diesen Satz - und wieder im vergangenen Dezember, als auf Twitter der Hashtag #KinderMedizinbrennt trendete: "Die Situation ist so prekär, dass man wirklich sagen muss: Kinder sterben, weil wir sie nicht mehr versorgen können. Und das ist eine Aussage, die auch nicht zu widerlegen ist." Diese Aussage fiel am 1. Dezember in Hamburg auf der Pressekonferenz der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI).

Diesmal bekam er, nach beinahe drei Jahren Corona-Pandemie und mitten in der RSV-Welle, besonders viel Aufmerksamkeit - und mehr Nachfragen. So etwa von Niedersachsens Gesundheitsministerin Daniela Behrens (SPD) oder etwa einem User auf Twitter, der nach konkreten Zahlen suchte.

Kurz zusammengefasst: Sasses Aussage ist nach Einschätzung vieler Experten in dieser Form nicht haltbar. Denn es fehlen schlicht Zahlen, die Sasses spezifische Behauptung belegen könnten. Zugleich ist wiederum nicht auszuschließen, dass Kinder sterben, weil sie nicht optimal versorgt werden können. Aber in der regelmäßigen Häufigkeit, wie sie Sasses Aussagen implizieren, sind solche Fälle nicht belegt. Und auch in mutmaßlichen konkreten Fällen lässt sich nicht mit Sicherheit sagen, dass das Kind überlebt hätte, wäre es auf einer bestimmten Station versorgt worden.

Relativierung von Sasses Aussagen noch im Dezember

Nach der Pressekonferenz in Hamburg im Dezember hatte Niedersachsens Gesundheitsministerin Behrens bei der Medizinischen Hochschule Hannover nachgefragt. Die Rückmeldung aus dem Universitätsklinikum gab ein Ministeriumssprecher weiter an die Öffentlichkeit: Es sei nicht so, dass Kinder sterben, weil sie nicht behandelt werden können.

Dem #Faktenfuchs antwortete der Sprecher in einer E-Mail, dass dem niedersächsischen Gesundheitsministerium keine Belege oder Fälle bekannt seien, in denen ein Kind gestorben ist, weil es medizinisch nicht versorgt werden konnte.

Auf die Nachfrage des NDR in Niedersachsen, ob bereits Kinder gestorben seien, habe Sasse im Dezember über einen DIVI-Sprecher mitteilen lassen: "Es steht klar zu befürchten, dass Kinder sterben könnten, wenn die Versorgungssituation nicht schnellstmöglich verbessert wird." Eine Relativierung, zumindest in Bezug auf die Situation im Dezember an der MHH.

Persönliche Erfahrung versus Statistik

In einem Interview mit der "Zeit" im Januar 2022 hatte Sasse die Aussage noch bestätigt, es stürben Kinder, weil sie nicht versorgt werden könnten, und ergänzte: "Vor ein paar Tagen hatte ich eine Komplikationskonferenz mit einer anderen Klinik, da besprechen wir gemeinsam behandelte Fälle. Ein Kind ist gestorben, das andere schwerbehindert – weil wir diese Kinder nicht übernehmen konnten."

Solche Aussagen sind heikel. Warum, das erklären mehrere Experten im Gespräch mit dem #Faktenfuchs. "Es ist nicht eindeutig zu beweisen, ob ein Kind überlebt hätte, selbst wenn es von einer noch besser ausgestatteten Klinik hätte übernommen werden können", sagte etwa Florian Hoffmann, zweiter Vorsitzender der DIVI und Oberarzt der Kinderklinik und Kinderpoliklinik im Haunerschen Kinderspital München, dem BR24 #Faktenfuchs.

Auch Rainer Rossi merkt im Gespräch mit dem #Faktenfuchs an: "Es müsste für solche Aussagen klarere Belege geben als das Anekdotische." Rossi war 26 Jahre Leiter der Kinderklinik im Vivantes-Klinikum Neukölln in Berlin und ist seit November im Ruhestand. Er war langjährig im Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Perinatale Medizin (DGPM). Das betrifft zwar Kinder, die kleiner sind als jene, die Sasse in aller Regel behandelt. Aber Rossi kennt sich mit Strukturproblemen und deren Abbildung aus. "Sein Erleben lässt sich nicht abstreiten", sagt Rossi über Sasses Aussagen. "Aber eine andere Frage ist, ob es statistisch nachweisbare Todesfälle von Kindern aufgrund von Fachkräfte- und Bettenmangel gibt. Ich kann Ihnen dafür keine Quelle nennen."

Genau diese Frage ziehen die pauschalen Aussagen nach sich, die Sasse in der medialen Öffentlichkeit trifft. Im Juni 2019 sagte Sasse in einem Protokoll der "Zeit": "Jeden Tag sterben in Deutschland Kinder, weil es zu wenige Pflegekräfte gibt." Wenn täglich mindestens zwei Kinder stürben, dann wären das auf ein Jahr gerechnet mindestens 730 Kinder, die eindeutig aus diesem spezifischen Grund sterben. Taucht eine derartig hohe Zahl an Sterbefällen von Kindern irgendwo auf?

"Es sind uns keine aussagekräftigen Statistiken bekannt, die diese Aussage belegen könnten", sagte ein Sprecher der Medizinischen Hochschule Hannover dem #Faktenfuchs über die Zitate von Sasse. Weitere Fragen und mehrere Gesprächsanfragen des #Faktenfuchs auch an Michael Sasse direkt blieben unbeantwortet.

Das Spannungsfeld zwischen Belegen und Widerlegen

Auch andere Experten bestätigen Sasses Aussagen in dieser Form nicht. "Diese Aussage ist missverständlich. Sie soll aufrütteln – und dieses Ziel ist verständlich. Aber wenn Kinder seit Jahren in diesem Maßstab sterben würden, wäre die Kindersterblichkeit bundesweit erhöht und das würde auffallen", sagte der zweite DIVI-Vorsitzende Hoffmann. "Das würden wir in den Sterbe-Daten sehen. Wir wissen am Beispiel der Erwachsenen, dass wir eine Übersterblichkeit nachweisen können - und da Kinder seltener sterben als Erwachsene, würde das statistisch noch mehr auffallen. Diese Belege gibt es aber nicht."

In Deutschland sterben laut Statistischem Bundesamt seit rund zehn Jahren jährlich rund 4.000 Kinder und Jugendliche vor Vollendung des 18. Lebensjahres, davon mehr als 60 Prozent als Neugeborene oder Säuglinge. Geht man bis zu 20 Jahre zurück, waren es noch deutlich mehr Kinder und Jugendliche.

Für verstorbene Neugeborene gibt es Einzelfallanalysen im Rahmen der gesetzlich vorgeschriebenen Qualitätssicherung der Krankenhäuser, wie Christoph Bührer, Präsident der Gesellschaft für Neonatologie und Pädiatrische Intensivmedizin (GNPI), in einer Mail an den #Faktenfuchs erklärt. Die Strukturmängel, die dabei als mitursächlich für den Tod eines Kindes identifiziert werden, lägen weniger im Bereich des absoluten Personalmangels - denn im EU-Vergleich habe Deutschland eher eine überdurchschnittliche Anzahl von Pflegenden. Sondern man fände sie im Bereich der Verteilung, wenn etwa Neugeborene in Kliniken betreut werden, die fachlich nicht wirklich dazu in der Lage seien. Oder wenn sie in einer Klinik geboren würden, wo es zwar eine Entbindungs-, aber keine Neugeborenenabteilung gibt und nach einer kritischen Geburt das entsprechende Team erst anfahren müsse, so Bührer. Für ältere Kinder gibt es eine solche Einzelfallanalyse nicht.

Auch bayerisches Gesundheitsministerium kann pauschale Aussage nicht bestätigen

Deshalb sagt auch Florian Hoffmann von der Haunerschen Kinderklinik dasselbe wie schon die Pressestelle der MHH: Es gebe derzeit auch keine andere Statistik, die wissenschaftlich belastbare Belege für diese Aussagen liefert. Auch das bayerische Gesundheitsministerium reiht sich ein: Die pauschale Aussage "Kinder sterben, weil wir sie nicht mehr versorgen können", könne nicht bestätigt werden. Entsprechende Daten lägen weder dem Ministerium noch dem Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit oder der Bayerischen Krankenhausgesellschaft vor.

Da Sasse Kinderintensivmediziner ist, liegt die Frage nahe, ob sich seine Angaben decken mit den Kenntnissen der Gesellschaft, in der sich seine Fachkollegen zusammengetan haben. Christoph Bührer von der Gesellschaft für Neonatologie und Pädiatrische Intensivmedizin antwortet dem #Faktenfuchs in einer E-Mail: Es sei in den Pandemiejahren zwar vorgekommen, dass wichtige Behandlungen bei lebensbedrohlichen Erkrankungen von Kindern verschoben worden seien. Aber: "Mir persönlich sind keine Todesfälle von Kindern bekannt, die direkt auf Mangel an Fachkräften zurückzuführen wären, und ich kenne auch keine entsprechenden Statistiken", schreibt Bührer, der auch Direktor der Klinik für Neonatologie an der Berliner Universitätsklinik Charité ist.

Auch Jörg Dötsch, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Kinder- u. Jugendmedizin (DGKJ) und Direktor der Klinik und Poliklinik für Kinder- u. Jugendmedizin am Universitätsklinikum Köln, äußert sich so: "Mir ist für diese Aussage keine anekdotische und keine statistische Evidenz bekannt. Dass aber die Gefahr besteht, das würde niemand bestreiten."

Das bestätigt Matthias Gorenflo, der sich ebenfalls mit Fällen schwerstkranker Kinder auskennt. Der Ärztliche Direktor der Klinik für Kinderkardiologie und Angeborene Herzfehler am Universitätsklinikum Heidelberg (UKHD) ist auch Präsident der Deutschen Gesellschaft für Pädiatrische Kardiologie und angeborene Herzfehler (DGPK). Auch er sagt: "Mir persönlich sind keine Fälle von verstorbenen Kindern bekannt, deren Tod - zweifelsfrei und nachprüfbar - auf Pflegemangel zurückzuführen wäre. Dies bedeutet aber nicht, dass es solche Fälle nicht gibt, da im Individualfall zunächst nur das behandelnde Team zu einer derartigen Bewertung kommen kann."

Viele Experten beschreiben Versorgungslage als bedrohlich für Kinder

Festzuhalten bleibt, dass es keine handfesten Belege für Sasses Aussage gibt. Das heißt allerdings nicht, die Probleme in den Kinderkliniken zu leugnen. Die Lage in den Kinderkliniken war und ist auch immer wieder prekär, das ist im Bereich der Kindermedizin unumstritten. Wie Bührer, Dötsch und Hoffmann erklärt auch Gorenflo, dass die Versorgungslage für schwerstkranke Kinder bedrohlich ist. "Mir sind sehr wohl Fälle bekannt, bei denen schwerstkranke Neugeborene über weite Strecken transportiert werden mussten, da die primär zuständige Klinik keinerlei Intensivkapazität hatte", schreibt Gorenflo dem #Faktenfuchs. Das belaste ein schwerstkrankes Kind extrem. "Wenn sich an einen solchen Transport dann ein komplizierter Eingriff oder ein kompliziertes Verfahren anschließen muss, wird dies automatisch mit einer höheren Sterblichkeit assoziiert sein."

Viele der Ärzte, mit denen der #Faktenfuchs gesprochen hat, berichten von dramatischen Fällen. Sie sind als anekdotische Evidenz einzuordnen, im Detail können wir sie nicht nachprüfen. Sie sind aber - ohne statistischen Anspruch - Hinweise auf die Lage in Kinderkliniken. In den vergangenen beiden Jahren sei es zum Beispiel vorgekommen, dass ein anstehender Chemotherapieblock bei einem Kind mit Leukämie um mehrere Tage verschoben worden sei, weil kein Platz in der Klinik dafür frei gewesen sei, was sich negativ auf die Heilungschancen auswirken könnte, schreibt etwa Bührer, der Präsident der Gesellschaft für Neonatologie und Pädiatrische Intensivmedizin.

Auch Hoffmann, der in seiner Funktion für die DIVI während des Winters schon wiederholt vor den Gefahren einer "katastrophalen" Lage in Kinderkliniken gewarnt hatte, sagte dem #Faktenfuchs: "Bei einer Überlastung des Systems wie in diesem Winter ist es mathematisch klar, dass auch Kinder zu Schaden gekommen sind, und es werden noch Kinder zu Schaden kommen. Wir haben große Struktur- und Ressourcenprobleme und wir schaffen es nur noch mit größter Anstrengung, unsere schwerkranken Kinder zu versorgen."

Diese Beschreibungen zeigen das Spannungsfeld. Denn Experten sehen noch ein weiteres Problem, das Aussagen wie die von Sasse mit sich bringen. "Es klingt für die Bevölkerung so: Wenn mein Kind einen schweren Unfall hat, dann kann ihm nicht mehr geholfen werden. Aber das ist nicht so", sagte etwa eine DIVI-Sprecherin dem #Faktenfuchs. Das ergänzte Sasse selbst kurz nach seinen Aussagen vom Juni 2019 in der "Zeit" in einem weiteren Medienbericht: "Allerdings, so betont Sasse, würden nie lebensbedrohte Notfallpatienten abgelehnt", heißt es darin.

Viele der Experten beschreiben den Druck, unter dem Ärzte unter diesen Bedingungen stehen. "Viele haben das Gefühl, man wird nur wahrgenommen, wenn man etwas besonders dramatisch darstellt. Wir dürfen Eltern und Kinder aber nicht unbegründet beunruhigen. Auch da haben wir eine Verantwortung", sagt der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin, Dötsch. Die Wirklichkeit auf Kinderstationen sei nicht schwarz-weiß. "Jedes schwer kranke Kind wird schnell behandelt, immer", sagt Dötsch. Aber es könne sein, dass dafür ein anderes, weniger krankes Kind nicht sofort behandelt werden kann oder verlegt werden muss. "Damit halten wir die Versorgung aufrecht - obwohl einige Kinder und ihre Familien dadurch Unannehmlichkeiten in Kauf nehmen müssen."

Fazit

Es gibt keine Statistik, die Todesfälle von Kindern jeden Alters spezifisch aufgrund von Fachkräftemangel sichtbar machen würde. Die Aussagen von Michael Sasse beruhen auf seiner eigenen Erfahrung, die so weder im Einzelfall noch auf statistischer Ebene zweifelsfrei nachzuprüfen ist. Dennoch ist in Fachkreisen unumstritten, dass die Versorgungslage in Kinderkliniken für die Patienten und Patientinnen bedrohlich ist. Kinder können zu Schaden kommen, weil es nicht genügend Kinderpfleger und -pflegerinnen gibt.

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