Inhalt

SG München, Endurteil v. 22.01.2020 – S 54 KR 1172/19
Titel:

Anspruch auf Implantation einer Hodenprothese 

Normenketten:
SGB V § 27 Abs. 1 S. 1
GG Art. 3
Leitsatz:
Die gemäß § 27 Abs. 1 Satz 1 SGB V geschuldete Krankenbehandlung beinhaltet die Implantation einer Hodenprothese nach medizinisch notwendiger Entfernung der Hoden aufgrund eines Tumors. (Rn. 18 – 20)
Schlagworte:
Krankenbehandlung, Implantation, Hodenprothese, Sachleistung, Hoden, Krankheit, Gleichbehandlung
Fundstelle:
BeckRS 2020, 21242

Tenor

I. Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheids vom 4.7.2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 15.3.2019 verurteilt, dem Kläger die beantragte Implantation einer beidseitigen Hodenprothese als Sachleistung zu gewähren.
II. Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des Klägers.

Tatbestand

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Streitig ist die Bewilligung der Implantation einer beidseitigen Hodenprothese als Sachleistung.
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Dem 1983 geborenen, bei der Beklagten gesetzlich krankenversicherten Kläger mussten im Februar 2018 aufgrund eines beidseitigen malignen Hodentumors (Seminom) beide Hoden entfernt werden. Am 27.6.2018 stellte er bei der Beklagten einen Antrag auf Implantation einer beidseitigen Hodenprothese.
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Die Beklagte lehnte dies nach Einholung einer gutachterlichen Stellungnahme des MDK vom 2.7.2018 mit Bescheid vom 4.7.2018 ab. Im Widerspruchsverfahren wurde dem Kläger eine Anpassungsstörung (F43.2) bedingt durch die fehlenden Hoden attestiert. Es bestehe eine Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit im Alltag, vor allem durch Hemmnisse im Sozialkontakt, eine Erschwernis bei sozialen Aktivitäten sowie eine Beeinträchtigung der Sexualität. Eine Hodenimplantation würde mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit zu einer dauerhaften Remission der psychischen Störung führen, weshalb diese aus psychosomatischer Sicht zu befürworten sei (Stellungnahme Dr. C. vom 22.2.2019). Der Widerspruch wurde nach Einholung einer weiteren gutachterlichen Stellungnahme des MDK vom 25.1.2019 mit Widerspruchsbescheid vom 15.3.2019 abgewiesen.
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Mit der am 18.4.2019 beim Sozialgericht München erhobenen Klage verfolgt der Kläger sein Ziel weiter.
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Zur Begründung wird insbesondere auf die infolge der Hodenentfernung entstandenen psychischen Beschwerden verwiesen. Eine unbeschwerte Teilhabe an einem gesunden Sexualleben sei ihm nicht möglich. Selbst etwas so alltägliches wie Schwimmengehen stelle eine psychische Belastung für ihn dar.
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Der Kläger beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 4.7.2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 15.3.2019 zu verurteilen, dem Kläger die beantragte Implantation einer beidseitigen Hodenprothese als Sachleistung zu gewähren.
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Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
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Es sei auch für die Beklagte nachvollziehbar, dass der Kläger erheblich unter den bestehenden Beeinträchtigungen aufgrund der Erkrankung leide. Dies begründe aber aus Sicht der Beklagten unter Berücksichtigung der geltenden Rechtsprechung weiterhin keinen Leistungsanspruch. Eine mögliche Entstellung müsse in bekleidetem Zustand bewertet werden. Auch der Verweis, dass eine Behandlung mit Mitteln der Psychotherapie zu erfolgen habe, sei aus den vorhandenen Urteilen zu entnehmen.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Gerichts- und die beigezogene Verwaltungsakte der Beklagten verwiesen.

Entscheidungsgründe

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Die Klage hat Erfolg.
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Gegenstand der Klage (§ 95 Sozialgerichtsgesetz -SGG-) ist der Ablehnungsbescheid vom 4.7.2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 15.3.2019.
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Die statthafte und auch im Übrigen zulässige kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 1 und 4, § 56 SGG) ist begründet. Die ablehnende Entscheidung der Beklagten erweist sich als rechtswidrig, da der Kläger einen Sachleistungsanspruch auf die Bewilligung der Implantation einer beidseitigen Hodenprothese nach operativer Hodenentfernung wegen beidseitigen Seminoms hat.
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Der Kläger kann die beantragte Leistung von der Beklagten aus § 27 Abs. 1 Satz 1 SGB V verlangen. Danach haben Versicherte Anspruch auf Krankenbehandlung, wenn sie notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern.
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Unter einer Krankheit i.S.d. § 27 Abs. 1 Satz 1 SGB V wird allgemein ein regelwidriger, vom Leitbild des gesunden Menschen abweichender Körper- oder Geisteszustand verstanden, der ärztlicher Heilbehandlung bedarf oder - zugleich oder allein - den Betroffenen arbeitsunfähig macht. Da aber nicht jeder körperlichen Unregelmäßigkeit auch Krankheitswert zukommt, hat die Rechtsprechung diese Grundvoraussetzung dahingehend präzisiert, dass eine Krankheit nur vorliegt, wenn der Versicherte in seinen Körperfunktionen beeinträchtigt wird oder wenn die anatomische Abweichung entstellend wirkt (st. Rspr, vgl. BSG, Urteil vom 30.9.2015 - B 3 KR 14/14 R -, SozR 4-2500 § 33 Nr. 48, Rn. 29 m.w.N.).
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Klarzustellen ist zunächst, dass sich der Anspruch des Klägers auf die beantragte Krankenbehandlung weder aufgrund der Beeinträchtigung körperlicher Funktionen (1.), noch aufgrund eines entstellenden Erscheinungsbildes (2.), noch aus Gründen der Behandlung psychischer Probleme (3.) ergibt. Der Anspruch besteht vielmehr deshalb, weil die geschuldete Krankenbehandlung darauf gerichtet ist, Erkrankte unter Wahrung ihrer körperlichen Integrität zu heilen. Wird zur Behandlung in den Körper eingegriffen, ist dieser möglichst wiederherzustellen (4.).
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1. Der Kläger ist durch die Entfernung seiner Hoden zwar in seiner Zeugungsfähigkeit beeinträchtigt, sodass unter diesem Aspekt eine Krankheit im o.g. Sinne vorliegt. Die Krankenbehandlung muss jedoch auch dazu dienen, gerade diese körperliche Beeinträchtigung zu beseitigen oder jedenfalls zu mildern. Dies vermag die Implantation einer Prothese jedoch nicht zu leisten.
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2. Das Fehlen beider Hoden ist nicht derart auffällig, dass eine Entstellung im Rechtssinne vorliegt. Um eine Entstellung annehmen zu können, genügt nicht jede körperliche Abnormität. Vielmehr muss es sich objektiv um eine erhebliche Auffälligkeit handeln, die naheliegende Reaktionen der Mitmenschen wie Neugier oder Betroffenheit auslöst, und damit zugleich erwarten lässt, dass der Betroffene ständig viele Blicke auf sich ziehen, zum Objekt besonderer Beachtung anderer werden und sich deshalb aus dem Leben in der Gemeinschaft zurückzuziehen und zu vereinsamen droht, sodass seine Teilhabe am Leben in der Gesellschaft gefährdet ist. Um eine Auffälligkeit eines solchen Ausmaßes zu erreichen, muss eine beachtliche Erheblichkeitsschwelle überschritten sein: Es genügt zum Beispiel nicht allein ein markantes Gesicht oder generell die ungewöhnliche Ausgestaltung von Organen, etwa die Ausbildung eines sechsten Fingers an einer Hand. Vielmehr muss die körperliche Auffälligkeit in einer solchen Ausprägung vorhanden sein, dass sie sich schon bei flüchtiger Begegnung in alltäglichen Situationen quasi „im Vorbeigehen“ bemerkbar macht und regelmäßig zur Fixierung des Interesses anderer auf den Betroffenen führt (BSG, Urteil vom 8.3.2016 - B 1 KR 35/15 R -, SozR 4-2500 § 27 Nr. 28, Rn. 14 m.w.N.). Das Fehlen der Hoden erreicht - ebenso wie beispielsweise auch das Fehlen der weiblichen Brust - diese Erheblichkeitsschwelle nicht.
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3. Auch eine psychische Erkrankung des Klägers aufgrund der Hodenentfernung vermittelt keinen Anspruch auf die beantragte Leistung. Denn mit einer Hodenprothese wird nicht gezielt gegen die eigentliche Krankheit selbst vorgegangen, sondern es soll nur mittelbar die Besserung eines an sich einem anderen Bereich zugehörigen gesundheitlichen Defizits erreicht werden (vgl. BSG, Urteil vom 28.2.2008 - B 1 KR 19/07 R -, BSGE 100, 119-124, SozR 4-2500 § 27 Nr. 14, Rn. 18 m.w.N.). Die von den Krankenkassen geschuldete Krankenbehandlung muss unmittelbar an der eigentlichen Krankheit ansetzen. Bei nur mittelbarer Beeinflussung einer Erkrankung sind Maßnahmen zur gezielten Krankheitsbekämpfung nicht mehr hinreichend von sonstigen wegen einer Krankheit notwendig werdenden Hilfen im Bereich der Lebensführung zu unterscheiden, für welche die Krankenversicherung nicht aufzukommen hat (BSG, Urteil vom 9.6.1998 - B 1 KR 18/96 R -, Rn. 27 m.w.N.). Die Leistungspflicht ginge ins Uferlose. Daraus folgt: Liegt eine psychische Störung vor, so ist sie mit den Mitteln der Psychiatrie und Psychotherapie zu behandeln (BSG, Urteil vom 10.2.1993 - 1 RK 14/92 -, BSGE 72, 96-100, SozR 3-2200 § 182 Nr. 14, Rn. 19).
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4. Der Kläger kann die beantrage Leistung indes deshalb verlangen, weil die gemäß § 27 Abs. 1 Satz 1 SGB V geschuldete Krankenbehandlung (hier: Entfernung eines beidseitigen Seminoms) beinhaltet, dass die körperliche Integrität des Versicherten bei einem medizinisch notwendigen Eingriff möglichst wiederhergestellt wird, sei es mit körpereigenem oder mit körperfremdem Material. Ein solcher Fall unterscheidet sich grundlegend von Eingriffen in einen nicht behandlungsbedürftigen natürlichen Körperzustand, um das nicht entstellte äußere Erscheinungsbild zu ändern (vgl. BSG, Urteil vom 8.3.2016 - B 1 KR 35/15 R -, SozR 4-2500 § 27 Nr. 28, Rn. 18). Es handelt sich daher im Rechtssinne nicht um eine ästhetische Operation (vgl. BSG, Urteil vom 27.8.2019 - B 1 KR 37/18 R -, BSGE (vorgesehen), SozR 4 (vorgesehen), Rn. 9).
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Diese vom BSG im Hinblick auf die Mammaaugmentationsplastik nach Entfernung eines Mammakarzinoms entwickelte Rechtsprechung ist nach Ansicht des Gerichts auf den vorliegenden Fall entsprechend anzuwenden. Ein wesentlicher Unterschied ist nicht ersichtlich. In beiden Fällen geht es - anders als beispielsweise in dem einer Entscheidung des Bayerischen Landessozialgerichts zugrunde liegenden Sachverhalt (Urteil vom 4.12.2018 - L 20 KR 406/18) - um den Ausgleich der unmittelbaren Folgen der Krankenbehandlung an dem erkrankten und von der Behandlung betroffenen Organ (Hoden bzw. weibliche Brust). Zieht man sodann noch in Betracht, dass sowohl dem Fehlen des Hodens als auch dem Fehlen der weiblichen Brust keine entstellende Wirkung im Rechtssinne zukommt und es in beiden Fällen um Geschlechtsorgane geht, ist auch im Hinblick auf Art. 3 Abs. 2 Satz 1, Abs. 3 Satz 1 GG nicht einzusehen, warum dem Kläger versagt werden sollte, was einer Frau gewährt wird - nämlich die Rekonstruktion des behandlungsbedürftigen Organs.
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Der Klage war daher stattzugeben. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.