Kliniken werden geschlossen, obwohl das Gesundheitssystem vor dem Kollaps steht

Deutschland, 2020: Während der Corona-Pandemie gehen 21 Krankenhäuser vom Netz. In diesem Jahr folgen weitere. Wie kann das sein?

Zwei Krankenschwestern warten in einem Operationssaal.
Zwei Krankenschwestern warten in einem Operationssaal.mago images/imagebroker

Berlin-Dienstagabend, kurz vor zehn Uhr. Die Kanzlerin gibt eine Pressekonferenz. Elf Stunden hat Angela Merkel mit den Spitzen der Bundesländer verhandelt. Jetzt sitzt Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller zu ihrer Linken, Bayerns Ministerpräsident Markus Söder zur Rechten. Merkel wirkt hellwach, als sie erklärt, warum der Lockdown hierzulande verlängert und verschärft werden muss. Sie sagt: „Es geht also um Vorsorge.“

Ein paradoxes Szenario ist derzeit in Deutschland zu beobachten. Corona droht, das Gesundheitswesen in die Knie zu zwingen. Neue Gefahr zieht auf in Gestalt von Mutationen des Virus. Immer größere Einschränkungen werden den Bürgern auferlegt, um einen Kollaps abzuwenden. Planbare Eingriffe müssen verschoben werden, um Betten für Corona-Patienten freizuhalten. Intensivstationen sind am Limit. Die Berliner Krankenhausgesellschaft schlägt Alarm. Es fehlt an Fachkräften, das vorhandene Personal ist chronisch erschöpft, das Klagen groß. 

Gleichzeitig aber werden in Deutschland Krankenhäuser geschlossen, und kaum jemand nimmt davon Notiz. Mitten in der Pandemie werden Kapazitäten abgebaut, während der Mangel in täglichen Bulletins beklagt wird. Kapazitäten, die helfen würden, der zerstörerischen Kraft des Virus effektiver zu begegnen. Kapazitäten, die den Kennziffern der  medialen Debatte etwas entgegensetzen könnten, den Todesraten, den Inzidenzen. 

2020, im Jahr eins des Corona-Zeitalters, wurden 21 Kliniken deutschlandweit vom Netz genommen. Von 30 weiteren Krankenhäusern ist bekannt, dass ihnen die Schließung droht oder ihr Aus schon abgemachte Sache ist. Der Abbau hat in den zurückliegenden Jahren an Fahrt aufgenommen. 1991 gab es im gerade vereinten Land 2411 Kliniken, 2018 waren es 1925, zwölf Monate später nur noch 1914 Krankenhäuser in Deutschland.

Das Kliniksterben ist politisch gewollt, wird empfohlen von Gesundheitsökonomen und befeuert von ihren Gutachten. Ein bundesweiter Fonds über bis zu 750 Millionen Euro jährlich fördert die Konzentration auf große Standorte. Noch Ende Februar des vergangenen Jahres hatte Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) zu mehr Mut bei Krankenhausschließungen geraten. Der Bundestagsabgeordnete Karl Lauterbach (SPD) hielt 2019 einen Abbau der Kapazitäten grundsätzlich für richtig.

Damals kommentierte Lauterbach eine Studie der Bertelsmann-Stiftung, die sich dafür aussprach, den Bestand an Kliniken in Deutschland auf etwa 600 große Versorger herunterzufahren. In dieser Größenordnung sei das zwar überzogen, meinte  Lauterbach, doch in der Passauer Neuen Presse rechnete er damals vor: „Bei weniger Krankenhäusern hätten wir mehr Pflegekräfte, Ärzte und Erfahrung pro Bett und Patient und könnten auf überflüssige Eingriffe verzichten.“

Klar sei jedoch, befand der gelernte Mediziner und Gesundheitsökonom, der von 2001 bis 2013 als Aufsichtsrat der Rhön-Kliniken tätig war: „Es darf keine Gewinnmaximierung durch Krankenhausschließungen geben.“ Dringend notwendig sei die Förderung von Kliniken in dünn besiedelten Regionen und auf dem Land. Genau das Gegenteil jedoch passiert nun.

Doch nicht nur in der Provinz werden Kapazitäten abgebaut, auch in den Metropolen. In Berlin-Tempelhof zum Beispiel macht das Wenckebach-Krankenhaus dicht. Andrea Huck, eine engagierte Bewohnerin des Bezirks, kämpft dagegen, sie hat 4617 Unterschriften für eine Petition gesammelt. Verhindern will sie damit die Verlagerung der stationären Versorgung in das Auguste-Viktoria-Krankenhaus (AVK), weil sie einen Engpass in ihrem Kiez befürchtet. Beide Kliniken gehören zum landeseigenen Unternehmen Vivantes. Der Umzug soll bis 2025 abgeschlossen sein.

Von Tempelhof aus ist das AVK nur schwer zu erreichen

Mitte Dezember hat Huck ihre Petition der Landesregierung überreicht. Es gibt ein Foto, auf dem Finanzsenator und Vivantes-Aufsichtsratschef Matthias Kollatz zu sehen ist. In Händen hält er einen Stapel Papier, umwickelt mit rotem Geschenkband.

Im Fall des Wenckebach-Klinikums ist noch unklar, wie viele der momentan 443 Betten nach dem Umzug in einen Neubau auf dem Gelände des AVK am Grazer Damm erhalten bleiben. Von „additiven Betten“ ist in einer Antwort der Gesundheitsverwaltung auf eine Anfrage der Fraktion Die Linke im Abgeordnetenhaus die Rede. Es komme zu „keiner merklichen Verschlechterung der Versorgungslage“.

Das AVK liegt Luftlinie drei Kilometer vom Wenckebach-Klinikum entfernt. „Das mag nicht viel erscheinen“, sagt Andrea Huck, „aber vor allem für die alten Leute aus Tempelhof ist das AVK mit öffentlichen Verkehrsmitteln sehr umständlich und zeitaufwendig zu erreichen.“ Minister Spahn hatte im Februar erklärt, nicht die Erreichbarkeit, sondern die Qualität der Versorgung sei entscheidend.

Das sah die Deutsche Krankenhausgesellschaft anders. Auch die Deutsche Stiftung Patientenschutz warnte eindringlich vor einem Kahlschlag. In Zeiten des demografischen Wandels gebe es immer mehr Patienten, die keine Maximal­therapie benötigten, sagte deren Vorstand Eugen Brysch. Doch der Protest verhallte.

Initiativen wie jene der Tempelhoferin Huck gab es seit jenen Tagen etliche. Meist waren sie regional begrenzt. Die Petitionen trugen Namen wie „Gegen die Schließung des Marienhospitals in Altenessen“ oder „Rettung des Krankenhauses in Sulingen“. Seit dem vorigen Sommer will eine Interessengemeinschaft die Aktivitäten bundesweit bündeln. Das „Bündnis Klinikrettung“ sammelt Unterschriften für eine Petition.

„Unsere Kernforderung lautet: Kein Krankenhaus darf mehr schließen“, sagt Carl Waßmuth von der Initiative „Gemeingut in BürgerInnenhand“, die das Bündnis koordiniert. „Am 27. Januar wollen wir unsere Petition an Bundesgesundheitsminister Spahn übergeben.“ Die Aktivisten erkennen hinter dem Trend vor allem wirtschaftliche Interessen. Waßmuth sagt: „Meist werden die Kliniken in medizinische Versorgungszentren umgewandelt, sogenannte MVZ. Oder in Rehakliniken. Damit lässt sich mehr Geld verdienen als mit stationärer Behandlung in Krankenhäusern.“

Bereits vor der Pandemie engagierten sich Finanzinvestoren im Bereich der MVZ. 2019 und im ersten Quartal 2020 ging etwa die Hälfte der Verkäufe an solche Unternehmen. So hält es die Unternehmensberatung PricewaterhouseCoopers (PwC) in einem „Transaktionsmonitor Gesundheitswesen“ fest. Auch im Reha-Sektor sind seit 2017 vermehrt große Private-Equity-Fonds aktiv.

Klaus Emmerich bereitet die Entwicklung Sorge. Der 63-Jährige war selbst bis vergangenen August Vorstand zweier kommunaler Kliniken in der bayerischen Oberpfalz. „Ich bezweifle“, sagt Emmerich, „dass es reicht, wenn deutschlandweit rund 600 Krankenhäuser mit stationärer Versorgung übrig bleiben.“ Eben jene rund 600, die 2019 die Bertelsmann-Stiftung empfahl.

Die Stiftung legte im vorigen Herbst noch einmal nach, gemeinsam mit dem Barmer Institut für Gesundheitssystemforschung und der Robert-Bosch-Stiftung. Die drei Thinktanks schlugen vor, Häuser der niedrigsten Versorgungsstufe in „integrierte Versorgungseinheiten“ umzuwandeln. „Mit überwiegend ambulantem Charakter“, sagt Emmerich. „Betroffen wären überwiegend Krankenhäuser mit einer Kapazität von weniger als 200 Betten, aktuell immerhin 56 Prozent.“

Kommunale Kliniken haben Wettbewerbsnachteile

Am Standort Wenckebach in Tempelhof soll laut Vivantes ein „Gesundheitscampus“ entstehen, unter anderem mit einer Notfallpraxis der Kassenärztlichen Vereinigung, einem Ärztehaus, einer Einrichtung für Tages-OPs. Das AVK dagegen werde zu einem „Adlershof der Medizin“ – Hightech in Schöneberg.

„Keine Frage, große Einheiten lassen sich ökonomisch besser betreiben“, sagt Emmerich. Synergien entstehen durch Rabatte, wenn teure Geräte in hoher Stückzahl für viele Standorte angeschafft werden. Eine zentrale Verwaltung für Dutzende Kliniken spart ebenfalls Geld. Qualitätsmanagement, Hygienemanagement, Risikomanagement – alles kostengünstig aus einer Hand.

„Ökonomie darf aber nicht der Grundsatz klinischen Handels sein“, sagt Emmerich weiter. „Das führt uns die Pandemie ja gerade drastisch vor Augen. Es muss vielmehr darum gehen, in jedem Winkel von Deutschland mit einigermaßen normalen Entfernungen Patienten stationär versorgen zu können. Mit nicht einmal einem Drittel der heutigen Kapazität funktioniert das nicht.“

Der Verwaltungsfachmann war für die Kreiskrankenhäuser im Landkreis Amberg-Sulzbach verantwortlich, Häuser der Grund- und Regelversorgung. Nach den Vorstellungen von Barmer, Bosch und Bertelsmann würde es diese Krankenhäuser nicht mehr geben, sagt er. Kommunale Kliniken hätten schon jetzt Wettbewerbsnachteile: „Private und gemeinnützige Träger können ein ökonomisch effektives bundesweites Netz von Krankenhäusern und medizinischen Versorgungszentren aufbauen, ihre Patienten nach Belieben steuern. Kommunale Krankenhäuser dürfen ihre Standorte nur in der eigenen Kommune anbieten.“

Vivantes zum Beispiel betreibt Kliniken ausschließlich in Berlin. Ein MVZ in Brandenburg eröffnen, das Patienten nach Berlin überweist, kann das landeseigene Unternehmen nicht.

Die Kluft zwischen Kommunalen und Privaten, zwischen Groß und Klein ist während der Pandemie nochmals gewachsen. Halten die kleinen Häuser, die sich auf die Grundversorgung konzentrieren, Kapazitäten für Corona-Patienten frei, gewährt ihnen die Bundesregierung dafür keine oder nur geringe Ausgleichszahlungen – anders als bei den Alleskönnerkliniken. „Sie werden also versuchen, möglichst viele Betten durch reguläre Patienten ohne Corona-Erkrankung zu belegen“, sagt Emmerich.

Scharfe Kritik an Gesundheitsminister Spahn

Die Charité musste auch deshalb Mitte Dezember auf ein Notprogramm umschalten. Sie geriet an ihre Grenzen, weil kleinere Krankenhäuser geplante Eingriffe nicht zurückstellten und dadurch Betten für Covid-19-Fälle fehlten. Die Johanniter wollen sich nicht mit der Situation abfinden. Sie kritisieren den Bundesgesundheitsminister scharf.

„Herr Spahn äußert sich populistisch über die gute medizinische Versorgung in Deutschland, im gleichen Atemzug nimmt er billigend durch den Wegfall der Corona-Ausfallprämie die Insolvenz vieler Krankenhäuser der Grund- und Regelversorgung in Kauf“, sagt Thomas Krössin, Geschäftsführer der Johanniter. „Das ist der indirekte Versuch, über die Corona-Pandemie die angeblich zu hohe Zahl an Krankenhäusern in Deutschland, insbesondere in strukturschwachen Regionen, von der Landkarte zu radieren.“ 

Unabhängig von der Pandemie genießen die privaten Krankenhausbetreiber Privilegien. „Sie dürfen Abteilungen schließen, wenn diese nicht rentabel sind, was dann allerdings Lücken in die Versorgung reißt“, sagt der ehemalige Klinikchef Emmerich. „Sie können Synergien nutzen, die den kommunalen Trägern verwehrt bleiben. Sie können zum Beispiel mit ihren Klinikküchen auch externe Alten- und Pflegeheime beliefern.“

Die drei großen privaten Anbieter in Deutschland heißen Helios, Sana und Asklepios. Asklepios fusionierte im Juli 2020 mit den Rhön-Kliniken. Zum Aufsichtsrat der Rhön-Kliniken gehörte Brigitte Mohn, Vorstandsmitglied der Bertelsmann-Stiftung. Diese Personalunion wurde im Sommer 2019 in deutschen Medien vereinzelt diskutiert. Mögliche Interessenkonflikte schloss die Bertelsmann-Stiftung indes aus, sie teilte mit: „Wir empfehlen nicht, bestimmte Kliniken zu schließen, sondern wir schlagen eine generelle Neuordnung der Krankenhausstruktur in Deutschland vor.“ Mohn gehört dem Aufsichtsrat nicht mehr an.

Immerhin, die Debatte über möglicherweise interessengeleitete Studien, über Lobbyismus und  Berater wurde geführt. Still und leise dagegen sterben nun Kliniken mitten in der Corona-Krise. „Meine große Befürchtung ist“, sagt Emmerich, „dass die Helden des Frühjahrs ganz schnell vergessen sein werden, wenn die Pandemie vorbei ist.“ Jene von den Balkonen der Republik beklatschten Ärztinnen, Ärzte und Pflegekräfte, das Klinikpersonal von der Laborantin bis zur Raumpflegerin. „Dann heißt es: Wir haben nach den umfassenden Corona-Hilfsmaßnahmen kein Geld mehr, wir müssen überlegen, wofür wir es ausgeben. Für die kleinen Kliniken wohl eher nicht.“