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Weniger Krankenhäuser nach Corona?

17. April 2020

Es gibt zu viele Krankenhäuser in Deutschland, meinen einige Gesundheitsökonomen schon lange und fordern die Schließung hunderter Kliniken. Hat sie die Corona-Krise zum Umdenken gebracht? Ganz im Gegenteil.

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Coronavirus Krankenschwester Klinikum Schwerin
Bild: picture-alliance/dpa/J. Büttner

Eben noch fragte man sich in Deutschland: Wann kommen die Krankenhäuser an ihr Limit? Jetzt fordern die Kliniken angesichts teils drastisch zurückgehender Auslastung eine Rückkehr zum Normalbetrieb. Und das Ausland fragt sich: Wie schaffen es die Deutschen, bislang so gut durch die Corona-Krise zu kommen? Festzuhalten bleibt:  Die Zahl der Toten ist geringer als in Ländern mit ähnlich vielen Infizierten, und es gab bisher keine Überlastung des Gesundheitssystems wie etwa in Italien, wo Betten und Beatmungsgeräte fehlten.

Als ein Grund werden die hohen Kapazitäten deutscher Krankenhäusern genannt. Pro Einwohner gibt es hier doppelt so viele Intensivbetten wie in Frankreich und fast vier Mal so viele wie in Italien oder Spanien, hat die Industrieländer-Organisation OECD errechnet.

Infografik - Intensivbetten pro 100000 Einwohner - DE

Noch vor kurzem aber nutzten Gesundheitsökonomen internationale Vergleiche vor allem, um Deutschland eine teure und unnötige Überversorgung mit Krankenhausbetten zu bescheinigen.

"In Deutschland gibt es zu viele Krankenhäuser", schrieb die Bertelsmann-Stiftung noch im Sommer 2019 und schlug vor, die meisten Kliniken zu schließen. "Eine starke Verringerung der Klinikanzahl, von aktuell knapp 1400 auf deutlich unter 600 Häuser, würde die Qualität der Versorgung für Patienten verbessern und bestehende Engpässe bei Ärzten und Pflegepersonal mildern", so die Stiftung bei der Vorstellung einer von ihr in Auftrag gegebenen Studie.

Auch die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina, die die Bundesregierung auch beim Umgang mit der Corona-Krise berät, schrieb 2016 von einem "unnötig aufgeblähten System mit zu vielen Krankenhäusern", nannte aber keine konkreten Zahlen.

"Hätte man das umgesetzt, was die Bertelsmann-Studie damals vorgeschlagen hat, wären wir heute in einer deutlich schlechteren Situation bei der Versorgung von Corona-Patienten", sagt Georg Baum, Hauptgeschäftsführer der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG), zur DW. "Wir hätten eine schlechtere Verfügbarkeit von Kliniken und mit Sicherheit nicht so viele Intensivplätze", so Baum weiter. Auch von Nutzern der Sozialen Medien wird die Bertelsmann-Stiftung wegen ihrer Kürzungspläne derzeit stark kritisiert.

Plädoyer für Großkliniken

Auf die Frage, ob sie ihre Kürzungsvorschläge im Licht der Corona-Krise nun anders siehe, wollte die Stiftung der DW nicht antworten. Es sei "viel zu früh, um aus einer unvorhersehbaren Krise grundlegende Schlussfolgerungen für die künftige Krankenhausstruktur abzuleiten", so die Stiftung.

Weniger zugeknöpft ist Martin Albrecht, Geschäftsführer des Instituts für Gesundheits- und Sozialforschung (IGES), einer privaten Beratungsfirma in Berlin, und Mitautor der Bertelsmann-Studie. "Im Licht der Pandemie wird unsere Studie stark kritisiert und behauptet, die Ergebnisse seien nicht haltbar. Das sehe ich überhaupt nicht so", sagt Albrecht zur DW. Die Versorgung von schweren COVID-19-Fällen spreche sogar eher für die Kernthese der Studie als dagegen. "Unsere Studie ist ein Plädoyer dafür, dass sich Krankenhäuser auf die schwereren Fälle konzentrieren sollten. Sie brauchen daher eine bessere Ausstattung an Personal und Geräten."

Deutschland Corona | Krankenhaus Charite
Mit rund 3000 Betten ist die Berliner Charité Deutschlands größtes KrankenhausBild: picture-alliance/AP Photo/M. Schreiber

Albrecht und die Bertelsmann-Stiftung fordern im Kern eine "Leistungskonzentration": Wenige Großkliniken, die mehr Patienten versorgen und über Fachärzte und modernste Geräten verfügen, die rund um die Uhr einsatzfähig sind.

Gerade die künstliche Beatmung von COVID-19-Erkrankten sei hoch komplex und benötige nicht nur Beatmungsgeräte, sondern auch erfahrene Spezialisten, so Albrecht. "Wir brauchen also Personal, das über entsprechende Erfahrung verfügt. Das aber ist nicht an 1000 Standorten gleichzeitig möglich. Hier wäre es sinnvoll, Kapazitäten und Expertise zu bündeln."

Wegfallen sollten laut Bertelsmann-Stiftung die vielen kleinen Krankenhäuser, die schlecht ausgestattet und defizitär sind. Viele Leistungen könnten zudem ambulant, also von niedergelassenen Ärzten übernommen werden, so die Studie. Überhaupt gingen die Deutschen zu oft ins Krankenhaus. "Rund ein Viertel der heute in deutschen Kliniken behandelten Fälle müssten nicht stationär versorgt werden", heißt es bei der Bertelsmann-Stiftung.

Überkapazität als Lebensversicherung

Umstritten ist allerdings, ob es der Bertelsmann-Stiftung um eine bessere oder nur um eine wirtschaftlichere Versorgung geht. Georg Baum von der Deutschen Krankenhausgesellschaft hält es für einen Fehler, im Gesundheitswesen vor allem auf Auslastung und Effizienz zu achten. Gerade weil sie Reserven haben, könnten die Krankenhäuser in der Krise funktionieren. "Diese Überkapazitäten sind gerade die Lebensversicherung für viele Menschen und das gesamte deutsche Gesundheitswesen", so Baum.

Deutschland Wolfsburg Coronavirus
Das Klinikum Wolfsburg nahm Ende März keine neuen Patienten auf, weil sich viele Mitarbeiter mit dem Coronavirus infiziert hattenBild: picture-alliance/dpa/C. Stratenschulte

Zudem sei ein System aus wenigen Großkliniken in Zeiten einer Virus-Pandemie viel anfälliger. "Nicht auszudenken, wenn eines dieser Großkrankenhäuser wegen einer Infektionsproblematik keine Patienten mehr aufnehmen könnte."

Gesundheitsökonom Martin stimmt zu, dass für solche Fälle Reserven nötig sind und die Strukturen "nicht auf 100 Prozent Effizienz getrimmt werden" dürfen. Allerdings könne sich die Planung der Reserven im Alltag nicht an einem Extrem-Szenario wie der Corona-Pandemie ausrichten. "Das kann kein Gesundheitssystem finanzieren, das ist zu teuer."

Zu teuer? Günstig?

Krankenhaus-Lobbyist Baum verweist dagegen auf den durch Corona angerichteten Schaden. "In diesen Zeiten entstehen durch die Krankheit weltwirtschaftlich Kosten im Billionen-Bereich. Da ist es vergleichsweise günstig, etwas Überkapazitäten in der Krankenhausversorgung zu haben."

Baum hofft jedenfalls, dass sich Diskussion über das Gesundheitssystem nach der Krise grundlegend ändern wird. Früher sei die Politik "durchaus anfällig" gewesen für die Thesen der Bertelsmann-Stiftung. "Ich glaube, dass es nun zu einer kompletten Neueinschätzung kommen wird", sagt er. "Denn jetzt hat auch die Politik verstanden, welchen hohen Stellenwert unsere vorhandenen Krankenhaus-Kapazitäten haben."

Dagegen warnt Martin Albrecht, Mitautor der Bertelsmann-Studie, davor, "Privatisierung und Marktmechanismen im Gesundheitsbereich" zurückzudrehen. "Die Diskussionen der vergangenen Jahre waren richtig." 

Wie die Sache ausgeht, ist offen. Sicher ist allerdings jetzt schon, dass nach der Corona-Krise in öffentlichen und privaten Händen eher weniger Geld vorhanden sein wird als vorher.

Andreas Becker
Andreas Becker Wirtschaftsredakteur mit Blick auf Welthandel, Geldpolitik, Globalisierung und Verteilungsfragen.