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Viele der verstorbenen Säuglinge wurden deutlich zu früh geboren.

© Fabian Strauch/dpa

Säuglingssterblichkeit in Neukölln: Zusammenhang mit Verwandtenehen lässt sich nicht belegen

Sterben in Neukölln deutlich mehr Säuglinge als in anderen Bezirken? Eine Studie zeigt: Vielleicht liegt die Ursache auch in einer unsauberen Dokumentation.

Im Sommer 2018 schlug der Neuköllner Stadtrat für Jugend und Gesundheit, Falko Liecke (CDU), Alarm: In dem Bezirk war die Säuglingssterblichkeit fast doppelt so hoch wie im Berliner Durchschnitt. Das zeigte der damals veröffentlichte Gesundheitsbericht des Bezirksamtes. Demnach starben in Neukölln zwischen 2014 und 2016 durchschnittlich 5,3 von 1000 lebendgeborenen Säuglingen. Berlinweit lag die Quote im gleichen Zeitraum bei 3,4.

Liecke kündigte eine „vorurteilsfreie“ Untersuchung an — und sorgte für Aufregung: Eine mögliche Erklärung für die vermehrten Todesfälle könnten etwa Verwandtenehen sein, vermutete der Stadtrat. Als weitere denkbare Ursachen nannte Liecke etwa eine schlechte soziale Lage und die Verfügbarkeit von Ärzten. Die Theorie zu den im Bezirk gehäuften Verwandtenehen wurde kontrovers diskutiert: in den Medien ebenso wie in der Bezirksverordnetenversammlung. Einige warfen Liecke Rassismus vor, andere, etwa Lokalpolitiker der AfD, sahen sich in rassistischen Vorurteilen bestätigt.

Nun liegen die Ergebnisse der von Liecke angeregten Untersuchung vor. Der Bericht, der dem Tagesspiegel vorliegt, zeigt vor allem: Um die Ursachen der erhöhten Säuglingssterblichkeit zu klären, fehlen schlichtweg Daten. Und: Lieckes These zu den Verwandtenehen lässt sich weder bestätigen noch widerlegen. Ausgewertet wurden demnach die Todesfälle zwischen 2016 und 2018. Bereits die Zahlen legen nahe, dass die Studie kaum repräsentative Daten liefern konnte: Für das Jahr 2016 wurde der Tod von 25 Säuglingen aus Neukölln ausgewertet, für 2017 und 2018 waren es lediglich 14 beziehungsweise zwölf.

Deutlich zu früh geborene Babys werden unterschiedlich dokumentiert

Auffällig ist, dass viele der untersuchten Todesfälle Säuglinge betreffen, die vor der 22. Schwangerschaftswoche geboren wurden. Die Studie spekuliert, dass „Todesfälle in unmittelbarer Nähe zur Geburt in den verschiedenen Berliner Geburtskliniken unterschiedlich erfasst und dokumentiert werden“. So würden im Neuköllner Klinikum eben auch Säuglinge, die deutlich zu früh geboren werden als „lebend geboren“ erfasst. In anderen Berliner Kliniken würden diese Babys hingegen „vermutlich häufig nicht als lebend geboren erfasst“, da sie keine Überlebenswahrscheinlichkeit haben.

„Es ist ein offenes Geheimnis, dass diese Fälle in Berlin unterschiedlich gehandhabt werden“, sagt Patrick Larscheid, Leiter des Zentralarchivs der Leichenschauscheine, am Telefon. „Es kann gut sein, dass die Neuköllner Zahl deutlich näher an der Realität ist als die womöglich geschönten Zahlen aus anderen Bezirken“, sagt Larscheid. Wenn das Neuköllner Klinikum lebendig geborene, aber nicht überlebensfähige Babys sauber dokumentiere, handele es sich damit „womöglich eine erhöhte Sterblichkeitsrate ein“. Da aber unklar sei, in wie vielen Fällen die deutlich zu früh geborenen Säuglinge als totgeboren erfasst werden, seien letztlich keine exakten Aussagen möglich. Daher appelliert Larscheid dringend an alle Verantwortlichen, die entsprechenden Fälle sauber und ehrlich zu dokumentieren.

Stadtrat Liecke fordert mehr Sorgfalt

Gleichzeitig ist Larscheid froh, dass das Thema nun „mit mehr Sachlichkeit“ diskutiert werde: Dass die These der Verwandtenehen durch die Studie nicht zu belegen wäre, sei von Anfang an klar gewesen, sagt Larscheid. Das die Studie zu keinem konkreten Ergebnis komme, liege letztlich auch einfach daran, dass in den Leichenscheinen „nichts steht“. In einigen sei laut Bericht zwar erkennbar, dass die Babys etwa an Fehlbildungen verstarben – was aber die Ursache dieser war, sei nicht zweifelsfrei rekonstruierbar.

Auch Stadtrat Liecke fordert mehr Sorgfalt bei der berlinweiten Datenerhebung und beim Ausfüllen der Leichenscheine. Er sieht die Studie, auch wenn sie zu keinem konkreten Ergebnis kommt, als Erfolg. „Für mich ist klar, dass in sozial benachteiligten Bezirken wie Neukölln die Präventionsarbeit weiter ausgebaut werden muss“, teilt Liecke auf Anfrage mit. Dafür werde es im laufenden Jahr eine Präventionskonferenz geben, bei der er die weitere Strategie für Neukölln festlegen wolle. „Das Thema bleibt also weiter auf der Tagesordnung“, betont Liecke.

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