L 5 KR 411/17

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
5
1. Instanz
SG Landshut (FSB)
Aktenzeichen
S 4 KR 369/12
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 5 KR 411/17
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
1. Das DRG-Vergütungssystem ist als ein jährlich weiter zu entwickelndes, „lernendes“ System konzipiert, so dass bei erkannten Unrichtigkeiten oder Fehlsteuerungen die Vertragsparteien berufen sind, diese zu beseitigen oder klarzustellen, wenn sie hierfür einen Handlungsbedarf sehen.
2. Diese Änderungen geschiehen nur mit Wirkung für die Zukunft, nicht rückwirkend.
I. Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Landshut vom 3.11.2014 wird zurückgewiesen.

II. Die Klägerin trägt die Kosten auch der Berufung.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

In einem Krankenhausabrechnungsstreit ist zur Vergütung einer Operation die Anwendung der DRG I03A oder I05Z strittig.

Die Klägerin ist Trägerin der orthopädischen Fachklinik A-Stadt, welche in den Krankenhausplan des Freistaates Bayern aufgenommen ist. Dort wurde das gesetzlich krankenversicherte Mitglied der Beklagten, Herr C. (geb. 1956; im Folgenden: C.), vom 16.11.2011 bis zum 30.11.2011 wegen Coxarthrosen mit Retroversion der Pfanne vollstationär behandelt. Operativ wurde H.S. am 17.11.2011 eine Hüft-Totalendoprothese (Hüft-TEP) zementfrei implantiert. In der Operation ereignete sich beim letzten Schlag der Einbringung des vorgesehenen Kurzschaftes eine ca. 4 cm lange Fissur des Schaftes des Oberschenkelknochens. Die Operateure entfernten darauf den Kurzschaft, führten eine Nachresektion des Schenkelhalses durch und implantierten einen Standardschaft. Der nachoperative Heilungsverlauf gestaltete sich regulär. Die Behandlung stellte die Klägerin unter dem 8.12.2011 mit 12.188,21 EUR in Rechnung bei Anwendung der DRG Fallpauschale I03A. Pflegesatzvereinbarungsgemäß beglich die Beklagte zunächst diese Rechnung vollumfänglich.

Aufgrund der mitgeteilten Falldaten veranlasste die Beklagte eine MDK-Prüfung zur Abrechnung. Der MDK kam im Gutachten vom 29.05.2012 zu dem Ergebnis, dass die Klägerin unzutreffend nach der ICD10 als Nebendiagnose die Ziffer M96.6 kodiert hatte. Zutreffend sei vielmehr die Ziffer Y96!. Diesem Ergebnis folgend teilte die Beklagte am 31.05.2012 mit, die abzurechnende Fallpauschale sei anstelle der DRG I03A zur DRG I05Z abzuändern. In der Folge reduzierte die Beklagte die Vergütung um 4.075,11 EUR und verrechnete diesen Betrag mit einer anderweitigen unstrittigen Vergütungsforderung.

Den Vergütungsbetrag von 4.075,11 EUR hat die Klägerin im Klagewege vor dem Sozialgericht Landshut geltend gemacht. Sie habe zu Recht in ihrer Abrechnung die Ziffer M96.6 verwendet, diese beschreibe nämlich eine "Knochenfraktur nach Einsetzen eines orthopädischen Implantates" und damit den Verlauf im Falle des H.S. Hingegen kodiere Y69! "Zwischenfälle bei chirurgischem Eingriff und medizinischer Behandlung", was als allgemeine Bezeichnung Dosierungsfehler, kontaminierte Substanzen, unzulängliche aseptische Kautelen, versehentlich zurückgelassene Fremdkörper, versehentliche Schnitte, Punktion, Perforation oder Blutung sowie vorzeitige Behandlungsabbrüche erfasse, nicht aber den Fall des H.S. Nach dem mit der Klage vorgelegten Operationsjournal habe eine "komplizierende Diagnose" vorgelegen, also ein Sachverhalt der DRG I03A, nicht aber ein Hüftgelenksersatz "ohne komplizierende Diagnose" wie in DRG I05Z abgebildet.

Dem hat sich die Beklagte widersetzt, denn die Fissur habe sich nicht nach Einsetzen des Schaftes/ des orthopädischen Implantates ereignet, sondern intraoperativ. Wie durch den MDK festgestellt, sei die während der Implantation der Hüft-TEP aufgetretene Fraktur des Femurschaftes nach den DKR unter Hinweis auf das Kapitel "Erkrankungen bzw. Störungen nach medizinischen Maßnahmen" als Nebendiagnose mit der ICD10 S72.3 zu verschlüsseln - hierdurch werden die Lokalisation und die Art der Erkrankung am spezifischsten kodiert. Wegen der zu ändernden Nebendiagnose-Kodierung werde der Behandlungsfall über die DRG I05Z zutreffend abgebildet.

Das Sozialgericht ein Sachverständigengutachten des Dr. med. M. Z. eingeholt (31.05.2014). Dieser hat die Kodierung M96.6 als nachvollziehbar und korrekt angesehen. Dagegen hat die Beklagte eingewandt, neben der unstreitigen ICD-10 S72.3 sei entgegen dem Sachverständigengutachten der ICD-10 M96.6 nicht zusätzlich als Nebendiagnose zu kodieren.

Mit Gerichtsbescheid vom 3.11.2014 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen im Wesentlichen mit der Begründung, vorliegend sei ein während der Operation zum Einsetzen einer Gelenkprothese bzw. dem Einsetzen des Kurzschaftes Zwischenfall aufgetreten, was medizinisch keine Knochenfraktur nach einer Maßnahme darstelle. Die Textdefinition der ICD-10 M96.6 sei somit nicht erfüllt, diese Ziffer nicht auf den Fall des C. anzuwenden. Vergütungsregelungen seien nach der Rechtsprechung des BSG zurückhaltend wortlautgetreu und nicht erweiternd auszulegen. Die Implementierung der DKR D015 im Jahr 2013 sei nicht rückwirkend anwendbar.

Dagegen hat die Klägerin Berufung eingelegt zur Weiterverfolgung ihres Zahlungsbegehrens. Sie hat Ihren bisherigen Standpunkt vertieft begründet sowie betont, das Deutsche Institut für Medizinische Dokumentation und Information (DMDI) habe unter dem Kapitel "S72 - Fraktur des Femurs" die Anwendung der Ziffer M96.6 in Fällen wie dem vorliegenden bestimmt. Das Entsprechende finde sich in der ICD-10-GM Version 2016, Anlage K 6. Die Beklagte hat ihre Auffassung bekräftigt und sich auf den Grundsatz der wortlautgetreuen Auslegung der im Behandlungsfall gültigen Kodierungen berufen.

Die Klägerin beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Landshut vom aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin 4.075,11 Euro zu zahlen nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz ab Rechtshängigkeit der Klage.

Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.

Der Senat hat die Verwaltungsakte der Beklagten sowie die Behandlungsakte des C. beigezogen und zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung vom 2.7.2019 gemacht. Darauf sowie auf die Gerichtsakten beider Rechtszüge wird zur Ergänzung des Tatbestandes Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig (§§143, 144, 151 Abs. 1 SGG), aber unbegründet.

Die Klägerin hat gegen die Beklagte keinen weiteren Anspruch auf Zahlung der noch geltend gemachten Vergütung in Höhe von 4.075,11 EUR gem. § 109 Abs. 4 S. 3 SGB V, §§ 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, 9 Abs. 1 Nr.1 KHEntgG, § 17b KHG iVm § 39 Abs. 1 SGB V, der Fallpauschalenverordnung 2015 sowie den DKR (Vereinbarung zu den Deutschen Kodierrichtlinien Version 2011 für das G-DRG-System gemäß § 17b KHG). Der Beklagten stand daher ein öffentlich-rechtlicher Erstattungsanspruch gegen die Klägerin zu. Sie hat daher zu Recht mit einer unstreitigen Vergütungsforderung gegenüber der Klägerin aufgerechnet bzw. eine nicht zu beanstandende Verrechnung (BSG, Urteil vom 25.10.2016 - B 1 KR 9/16 R) vorgenommen. Denn die Beklagte hat zutreffend für die Kodierung der Behandlung des C. im Jahre 2011 die Ziff. Y96! zu Grunde gelegt, die Ziff. M96.6 war nicht zu kodieren.

In Auswertung und Würdigung der Patientenakte des C., der weiteren medinischen Unterlagen einschließlich der medizinischen Stellungnahmen des MDK und des erstinstanzlich eingeholten Sachverständigengutachtens des Dr. med. M. Z. ist festzustellen, dass C. an einer Coxarthrose erkrankt war. Diese war so weit fortgeschritten, dass der Einsatz einer Hüft-TEP medizinisch erforderlich und notwendig war. Die entsprechende stationäre Behandlung vom 16.11.2011 bis zum 30.11.2011 war vollumfänglich erforderlich. Den Eingriff hat die Klägerin am 17.11.2011 nach den Regeln der ärztlichen Kunst vorgenommen. Dabei war zunächst die Implantierung einer TEP mit Kurzschaft vorgesehen. Bei dessen Einbringung kam es mit dem letzten Schlag des Operateurs zu einer Verletzung des Oberschenkelknochens in Gestalt eines Risses von ca. 4 am Länge. Deswegen war ein Schaft von Standardlänge zu verwenden, so dass die Implantierungsprozeduren gleichsam von vorne zu beginnen hatten. Der weitere Implatierungs- und Heilungsverlauf gestaltete sich regelgerecht. In Würdigung dieses Sachverhaltes hat die Beklagte die stationäre Behandlung des C. in Anwendung der Vergütungsregelungen der Gesetzlichen Krankenversicherung zu bezahlen. Dieser Sachverhalt ist unter den Beteiligten nicht strittig ebenso wenig wie die Zahlungspflicht der Beklagten dem Grunde nach.

Die Deutschen Kodierrichtlinien (DKR) bestimmen, ob und welche Nebendiagnosen für die Abrechnung zusätzlich zur Hauptdiagnose zu kodieren sind. Das ist nach den vorliegend anzuwendenden DKR in der Version des Jahres 2011 der Fall, wenn die fragliche Diagnose überhaupt als Nebendiagnose zu kodieren ist und diese sich zudem auf das Versorgungsgeschehen tatsächlich im Sinne eines zusätzlichen Aufwands ausgewirkt hat (BSG, Urteil vom 23.6.2015 - B 1 KR 13/14 R). Dazu finden der für den jeweiligen Zeitraum gültige Fallpauschalenkatalog sowie die Kodierrichtlinien streng nach ihrem Wortlaut Anwendung (st. Rspr, vgl. BSG Urteile vom 13.12.2001 - AZ.: B 3 KR 1/01 R und vom 14.10.2014 - B 1 KR 25/13).

Im Falle des C. darf die Kodierung M96.6 - wie erstinstanzlich zutreffend ausgeführt - aufgrund ihres Wortlaut nicht als Nebendiagnose angewandt werden. Bereits die Überschrift in der Untergruppe M95-M99 benennt "M96.- Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems nach medizinischen Maßnahmen, anderenorts nicht klassifiziert". Die Kodierung M96 benennt "Knochenfraktur nach Einsetzen eines orthopädischen Implantates, einer Gelenkprothese oder einer Knochenplatte". Vorliegend war innerhalb der Operation des C. im Zeitpunkt des Knochenrisses des Oberschenkelknochens die Einsetzung des Kurzschaftes der TEP noch nicht abgeschlossen. Nach dem oberärztlich unterzeichneten OP-Bericht wurde der "5-er Original-Metha-Kurzschaft" eingebracht. Sodann der Bericht weiter: "Beim letzten Schlag kommt es zu einer Fissur der medialen Corticalis, ...". Somit ist kein Platz für eine Kodierung, welche sich auf die Zeit "nach" der Implantierung bezieht (so auch LSG Baden-Württemberg, Urt. v. 10.11.2017 - L 4 KR 4155/15).

Dies hat zwar zum Ergebnis, dass der operative Aufwand der Klägerin nicht hinreichend in der Vergütung abgebildet werden mag. Denn wie auch dem OP-Bericht zu entnehmen war mit der Fissur, für welche ein Verstoß gegen die ärztlichen Behandlungsregeln nicht zu erkennen ist, der bisherige Behandlungsaufwand vergeblich. Es war ein Schaft von deutlich größeren Ausmaßen einzubringen, so dass die Knochenbehandlung, nahezu die wesentlichen Teile der Operation gleichsam von Neuem vorzunehmen waren. Dieses Ergebnis erlaubt aber es nicht, von der maßgeblichen, wortlautgetreuen Auslegung abzuweichen.

Dabei bleibt keineswegs unbeachtet, dass - wie die Klägerin in der Berufung betont hat -seit der ICD-10-GM Version 2016 zur Ziffer M96.6 bestimmt ist:
"M96.6 Knochenfraktur nach Einsetzen eines orthopädischen Implantates, einer Gelenkprothese oder einer Knochenplatte
Diese Schlüsselnummer ist nur bei einer beim Einsetzen eines orthopädischen Implantates, einer Gelenkprothese oder einer Knochenplatte aufgetretenen Fraktur anzugeben."
Dies spricht zwar dafür, dass die Vergütungshöhe im Falle des C. im Verhältnis zur medizinischen Leistung und zum klinischen Aufwand nicht adäquat gewesen sein wird.

Aber das DRG-Vergütungssystem ist als ein jährlich weiter zu entwickelndes, "lernendes" System konzipiert, so dass bei erkannten Unrichtigkeiten oder Fehlsteuerungen die Vertragsparteien berufen sind, diese zu beseitigen oder klarzustellen, wenn sie hierfür einen Handlungsbedarf sehen. Dies aber geschieht nur mit Wirkung für die Zukunft, nicht rückwirkend (st. Rspr., vgl. BSG, Urteil vom 17.11.2015 - B 1 KR 13/15 R).

Diesem Verständnis steht nicht entgegen, dass die genannte Änderung "im Sinne einer Klarstellung" erfolgt ist, denn die Klarstellung wurde nicht mit ausdrücklicher Wirkung für die Vergangenheit versehen.

Zur Einholung eines weiteren Sachverständigengutachtens oder zu einer weiteren Auseinandersetzung mit der Wertung des erstinstanzlich eingeholten Gutachtens des Dr. Z. besteht kein Anlass. Denn entscheidungserheblich ist nicht ein medizinischer Sachverhalt oder dessen Wertung im medizinischen Sinne. Dieser ist aufgeklärt und auch zwischen den Beteiligten nicht streitig, das nämliche gilt für die medizinische Wertung. Ausschließlich streitentscheidend ist aber eine Rechtsfrage, nämlich die Auslegung der Vergütungsregelungen. Die Aufgabe aber, Rechtsfragen zu entscheiden, ist allein dem Gericht zugewiesen, ärztlich-sachverständige Stellungnahmen sind dazu fehl am Platze (vgl. BSG, Beschluss vom 10.3. 2016 - B 1 KR 97/15 B).

Die Berufung der Klägerin bleibt daher vollumfänglich ohne Erfolg.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a SGG iVm. § 154 Abs.2 VwGO.

Gründe zur Zulassung der Revision bestehen nicht, § 160 Abs. 2 SGG.
Rechtskraft
Aus
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