Ziel der vorliegenden Umfrage war es, ein Bild darüber zu erhalten, inwieweit die SEPSIS-3-Definition 4 Jahre nach ihrer internationalen Einführung auf den deutschen Intensivstationen angekommen ist. Obwohl mit 49 nur ein kleiner Teil der anästhesiologisch geführten Intensivstationen in Deutschland an der Umfrage teilnahmen, erlaubt sie doch Rückschlüsse auf die allgemeine Akzeptanz der SEPSIS-3-Definitionen in der deutschen Anästhesiologie. So sind mit 19 von 35 immerhin über die Hälfte der deutschen Universitätskliniken (56 %) in unserer Umfrage vertreten [
19]. Quantitativ weniger stark vertreten waren nichtuniversitäre Häuser: Hiervon gab es in Deutschland im Jahr 2018
n = 1101 mit Intensiv- und/oder Intermediate-Care-Stationen [
19]. Von diesen waren 398 in öffentlicher Hand, 454 freigemeinnützige Krankenhäuser und 249 private Krankenhäuser. In wie vielen dieser Häuser eine anästhesiologisch geführte Intensivstation existiert, ist nicht bekannt. Trotzdem ist davon auszugehen, dass unsere Umfrage mit 30 Antworten nur einen sehr kleinen Teil dieser nichtuniversitären Häuser mit anästhesiologischen Intensivstationen erfasst. Die teilnehmenden Häuser waren zudem in erster Linie große Kliniken mit > 250 Betten. Insgesamt sind in unserer Arbeit damit Intensivstationen repräsentiert, die 14 % (1020 von 7230) der „High-Care-Betten“ verantworten, die im November 2020 im Register der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) gemeldet waren [
15]. Unsere Daten weisen einen deutlichen Bias hin zu großen universitären Häusern auf, sodass über das Vorgehen auf Intensivstationen an kleineren Häusern keine validen Aussagen getroffen werden können. Es kann jedoch angenommen werden, dass das Vorgehen an den erfassten großen Häusern über ihren Lehr- und Ausbildungsauftrag (und die Personalfluktuation) eine Strahlwirkung auf umliegende kleinere Häuser hat (untersucht und beschrieben in [
8]) und der repräsentative Wert unserer Umfrage daher höher ist, als die reinen Zahlen vermuten lassen. Unserer Ergebnisse zeigen, dass die SEPSIS-3-Definition inzwischen zumindest in den anästhesiologisch geführten Intensivstationen der Universitätsklinika in Deutschland angekommen ist und SEPSIS-1/2 weitgehend abgelöst hat. Dies ist eine deutliche Veränderung im Vergleich zum Jahr 2018, als in einer Umfrage auf Intensivstation noch über 50 % der Teilnehmenden angaben, alle 3 Definitionen parallel zu verwenden [
11]. Hierbei ist anzumerken, dass die Verwendung der SEPSIS-3-Definition zumindest seit der Veröffentlichung der ICD-10 Version 2020 [
6] hilft, Sepsis korrekt zu verschlüsseln. Denn in dieser neusten Ausgabe des ICD-10 sind die Codes für SIRS und SIRS mit Organkomplikation zwar noch vorhanden, aber de facto wertlos, da der Nutzer angehalten wird, zunächst stets die „die Sepsis auslösende Grunderkrankung“ (z. B. A41.–) zu kodieren. Die Codes für Sepsis (R65.0!) und schwere Sepsis (R65.1!) sind heute nicht mehr als Hauptdiagnose zur Abrechnung zulässig [
2,
6]. Stattdessen soll zunächst, wie von der DSG vorgeschlagen [
5], z. B. A41.9 (Sepsis, nicht näher bezeichnet) verschlüsselt werden und sekundär ein Code für eine oder mehrere Organdysfunktionen als Nebendiagnosen vergeben werden (z. B. R57.2 septischer Schock, N17.– akutes Nierenversagen, J96.– akute respiratorische Insuffizienz, D65.1 disseminierte intravasale Koagulopathie, G93.4 Enzephalopathie – nicht näher bezeichnet oder K72.0 akutes oder subakutes Leberversagen) [
5]. Die Erfassung der Codes für Organversagen (oder Sepsis, schwere Sepsis) als Nebendiagnosen erhöht dabei jedoch nicht die effektive Bewertungsrelation der Diagnosis Related Group (DRG) und führt damit nicht zu einem höheren Erlös. Für die Abrechnung in der Klinik ist es daher zunächst egal, ob eine Sepsis, ein septischer Schock (mit oder ohne weitere Organversagen) oder eine Sepsis mit SIRS kodiert wird. Erst die Dokumentation weiterer spezifischer Verfahren (z. B. Beatmungsstunden) führt zu einer höheren effektiven Bewertungsrelation der DRG. Für die Klinik birgt dies die Gefahr, dass eine nachlässige Kodierung potenziell zu Rückforderungen durch den medizinischen Dienst der Krankenkassen (MDK) führen kann.
Ein weiterer interessanter Aspekt unserer Untersuchung sind unsere Ergebnisse zur Verwendung des Testinstruments „qSOFA“ für die Identifikation von Sepsisverdachtsfällen außerhalb von Intensivstationen. Hier zeigen unsere Daten, dass Universitätsklinika bezüglich der Verwendung des qSOFAs deutlich zurückhaltender sind als andere Häuser und den qSOFA häufig nicht verwenden, obwohl SEPSIS‑3 bereits eingeführt ist. Dies könnte darin begründet sein, dass der qSOFA-Score zwar in der SEPSIS-3-Definition als Screeninginstrument vorgeschlagen wird, in nachfolgenden Untersuchungen jedoch gezeigt werden konnte, dass er zwar sehr spezifisch Patienten mit Organversagen identifiziert, in Bezug auf seine Sensitivität aber anderen Screeninginstrumenten wie den SIRS-Kriterien oder dem NHS-early Warning Score (NEWS) deutlich unterlegen ist [
3,
9,
12,
14,
20]. Stattdessen identifiziert der qSOFA-Score Patienten, deren Letalität mit 23 % deutlich über der einer einfachen Sepsis (etwa 10 %) liegt [
7,
18]. Dies ist insofern kritisch, als dass ein Testinstrument, das im Rettungsdienst, in der Notaufnahme oder auf Normalstationen eingesetzt wird, im Sinne der Patientensicherheit über eine hohe Sensitivität verfügen sollte. Damit kann nichtärztliches medizinisches Personal Patienten identifizieren, die einer genaueren ärztlichen Untersuchung unterzogen werden müssen, welche spezifischere Testmetoden enthalten kann. Einen spezifischen Test einzusetzen, der lediglich eine Sensitivität von 30–70 % aufweist [
9,
12,
20], kann hingegen eine falsche Sicherheit suggerieren und zu einer verspäteten Erkennung von Sepsisverdachtsfällen und damit zu einer erhöhten Letalität führen [
17]. Die Leitlinie der DSG berücksichtigt die Besonderheiten des qSOFA-Scores insofern, als dass (lediglich) empfohlen wird, ihn „regelmäßig zu bestimmen, um Risikopatienten mit vitaler Bedrohung frühzeitig zu erkennen“ [
4]. In der Begründung dieser Empfehlung wird auf die begrenzte Evidenz bezüglich des Stellenwertes des qSOFA-Scores bei der Diagnose der Sepsis eingegangen [
4]. Der qSOFA ist dabei der einzige Score, der in der Leitlinie explizit genannt wird, sodass der Eindruck entstehen kann, mit der ebenfalls in der Leitlinie enthaltenen allgemeinen Empfehlung zur „Implementierung […] eines Screenings für Risikopatienten“ sei ausschließlich der qSOFA-Score gemeint. Ob an den Kliniken, die den qSOFA-Score zum Screening auf Normalstationen einsetzen, darüber hinaus noch ein weiterer Score verwendet wird, wird durch unsere Daten nicht abgebildet. Eine Spezifizierung der Empfehlungen wäre jedoch sinnvoll, um eine frühzeitige Erkennung von Patienten mit Sepsis, die zwar (im Sinne der Sepsisdefinition) lebensbedrohlich erkrankt, aber (noch) nicht per-akut gefährdet sind, sicher zu gewährleisten. Nur so kann effektiv verhindert werden, dass die Leitlinie zur Abschaffung von sensitiveren Screeninginstrumenten und damit potenziell zu einer Unterversorgung von Sepsispatienten beiträgt.
Zusammenfassend kann konstatiert werden, dass der Übergang von der SEPSIS-2- auf die SEPSIS-3-Definition in Deutschland weit vorangeschritten ist und diese bereits gelebte Realität in Bezug auf die Definition der Sepsis durch die Einführung des ICD-11 nun bald auch formal abgebildet werden kann. Unsere Daten zeigen, dass auch der qSOFA-Score bereits Teil des Krankenhausalltags in Deutschland geworden ist. Seine Schwächen in Bezug auf die Sensitivität implizieren jedoch die Notwendigkeit einer Diskussion darüber, ob er als alleiniges Sepsistestinstrument im Rettungs- und Notarztdienst, in Notaufnahmen und auf Normalstationen zum Einsatz kommen sollte. Eine entsprechende interdisziplinäre Fachgesellschafts-übergreifende Empfehlung wäre daher wünschenswert.