L 1 KR 89/18

Land
Hamburg
Sozialgericht
LSG Hamburg
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
1
1. Instanz
-
Aktenzeichen
S 9 KR 260/14
Datum
2. Instanz
LSG Hamburg
Aktenzeichen
L 1 KR 89/18
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Landessozialgericht Hamburg

Urteil Im Namen des Volkes In dem Rechtsstreit

hat der 1. Senat des Landessozialgerichts Hamburg auf die mündliche Verhandlung vom 22. August 2019 durch

die Vizepräsidentin des Landessozialgerichts Abayan, die Richterin am Landessozialgericht Stachnow und den Richter am Landessozialgericht Winter sowie den ehrenamtlichen Richter Prof. Dr. Scheer und den ehrenamtlichen Richter Krause

für Recht erkannt:
1. Die Berufung der Beklagten wird zurückgewiesen. 2. Die Beklagte trägt auch die Kosten des Berufungsverfahrens. 3. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um Krankenhausvergütung für die stationäre Behandlung einer Versicherten der Beklagten, die im Zeitraum vom 14.7.2011 bis 6.8.2011 zunächst intensivmedizinisch bei der Klägerin behandelt wurde und später weiter stationär. Bei ihr war bereits im Jahr 2003 eine Hüftprothese implantiert worden. Zum Zeitpunkt der Krankenhausbehandlung war sie 82 Jahre alt. Sie war auf die rechte Körperhälfte gestürzt und wurde mit dem Rettungswagen bei der Klägerin eingeliefert. Bei ihrer Aufnahme bestanden sowohl klinisch als auch radiologisch Zeichen einer Oberschenkelfraktur.

Die hier streitige Operation fand am 19.7.2011 statt. Bei dem operativen Eingriff wurde zunächst der vor der Operation eingetretene Bruch mit Drahtcerclagen gerichtet, sodann der zementfreie Prothesenschaft herausgezogen und zunächst durch einen Brehm- Prothesenschaft (26 cm) gewechselt, wobei jedoch festgestellt wurde, dass der eingesetzte Schaft einen neuen Bruch des Knochens hervorrief. Der Schaft wurde wieder herausgezogen und ein noch längerer (32 cm) eingesetzt und mit körperferner doppelter Querverriegelung befestigt.

Die Klägerin berechnete hierfür insgesamt einen Betrag von 14.800,85 EUR, nachdem sie die Leistungen nach der DRG I03 A kodiert hatte. Dabei wurden S72.3 (Fraktur des Femurschaftes) als Hauptdiagnose und insbesondere M96.6 (Knochenfraktur nach Einsetzen eines orthopädischen Implantates, einer Gelenkprothese oder einer Knochenplatte) als Nebendiagnose zu Grunde gelegt. Die Beklagte wies ihr diesen Betrag zunächst an und beauftragte jedoch den MDK mit einer Prüfung der Kodierung von Haupt- und Nebendiagnosen sowie sämtlicher OPS und des Zusatzentgelts. Der MDK kam in der Folge in mehreren Stellungnahmen zu hiervon abweichenden Ergebnissen. Zu der Abrechnung der Klägerin ergab sich letztlich ein Differenzbetrag von 4.798,92 EUR.

Diesen Betrag hat die Klägerin mit der Klage vom 7.3.2014 geltend gemacht. Nach Annahme eines Teilanerkenntnisses der Beklagten nach Einholung des gerichtlichen Gutachtens hat die Prozessbevollmächtigte der Klägerin die Klage auf Zahlung von 2.227,42 EUR zuzüglich Zinsen beschränkt.

Dr. K. hat in dem im Auftrag des Sozialgerichts erstellten Gutachten vom 18.5.2015 unter ausführlicher Auswertung der Krankenakte der Patientin einschließlich des Berichts der Intensivstation sowie in Auseinandersetzung mit den Ausführungen des MDK zu den Beweisfragen angegeben, dass er die Abrechnung durch die Klägerin für vollkommen korrekt erachte. Insbesondere könne der Kode M96.6 auf jeden Fall als Nebendiagnose kodiert werden. Hauptdiagnose sei unzweifelhaft S72.3, da sich die Patientin einen Oberschenkelschaftbruch zugezogen habe, der direkt unterhalb eines einliegenden Kunstgelenks gelegen habe. Hinsichtlich der Kodierung M96.6 als Nebendiagnose gebe es verstärkt Diskussionen, was dieser Code überhaupt bedeute. Inzwischen habe das DIMDI jedoch ausgeführt, dass die Kodierung M96.6 für direkt mit der medizinischen Maßnahme im Zusammenhang stehende Frakturen gedacht sei. Der Code könne nur dann angewandt werden, wenn es während des Einsetzens der Prothese zu einer Fraktur komme, im Rahmen oder direkt nach der Operation. Deswegen, so der Sachverständige, könne die Argumentation des MDK, der Code M96.6 könne nicht als Diagnose kodiert werden, weil er die Behandlung der Versicherten gar nicht bedingt habe, nicht zutreffen. Es sei zunächst der vor der Operation eingetretene Bruch gerichtet worden mit Drahtcerclagen. Während der Operation habe sich unter Bildwandlerkontrolle gezeigt, dass beim Einbringen des neuen (sehr teuren) Peter-Brehm-Schaftes mit einer Länge von 260 mm der Schaft des neuen Kunstgelenks unterhalb der Fraktur die Vorderseite des Oberschenkels eröffnet habe. Es habe sich somit ein neuer Bruch unterhalb der eigentlich zu behandelnden Fraktur ergeben. Deswegen sei dieser Schaft erneut herausgezogen und durch einen noch längeren Schaft ersetzt worden. Dies sei dann gelungen. Damit sei es zu der klassischen intraoperativen Komplikation gekommen, für die genau der Code M96.6 gedacht sei. Diese zusätzliche Fraktur sei auch vorher nicht übersehen worden. Die Dokumentation im Operationsbericht sei ausreichend.

Nachdem die Beklagte angezweifelt hatte, dass der zweite Bruch erst bei dem Einsetzen der neuen Prothese entstanden sei, hat Dr. K. in einer weiteren ergänzenden Stellungnahme vom 21.11.2016 die Röntgenbilder ausgewertet und ist zu dem Ergebnis gekommen, dass es beim Prothesenwechsel zu einer weiteren Fraktur unterhalb der ursprünglichen Prothese gekommen sei. Sie zeige sich in den vorliegenden Röntgenaufnahmen eindeutig. Es könne aus diesem Grund M96.6 als Nebendiagnose abgerechnet werden.

Das Sozialgericht hat der Klage mit Urteil vom 11.07.2018 stattgegeben. Die Klägerin habe gegen die Beklagte nach Annahme des Teilanerkenntnisses der Beklagten im gerichtlichen Verfahren und Erledigung des Rechtsstreits insoweit einen Anspruch auf die Zahlung weiterer 2.227,42 EUR nebst Zinsen. Rechtsgrundlage des geltend gemachten restlichen Vergütungsanspruchs der Klägerin sei § 109 Abs. 4 Satz 3 SGB V i. V. m. § 7 Satz 1 Krankenhausentgeltgesetz (KHEntgG), hier anzuwenden in der Fassung des Art. 2 Nr. 7 Gesetz zur Änderung arzneimittelrechtlicher und anderer Vorschriften (AMRuaÄndG) vom 17. Juli 2009 (BGBl I, S. 1990), die FPV 2010 und der am 19.12.2002 in Kraft getretene Krankenhausbehandlungsvertrag nach § 112 Abs. 2 Nr. 1 SGB V für das Land Hamburg. Gemäß den dabei geltenden Grundsätzen sei vorliegend die DRG-Fallpauschale I03A zugrunde zu legen. Diese von der Klägerin berechnete DRG-Fallpauschale werde im FPV 2011 nur dann im Groupierungsvorgang angesteuert, wenn als Nebendiagnose (auch) M96.6 zu kodieren sei. Dies sei hier der Fall. Die Nebendiagnose M96.6 laute in der Version der ICD 10 für 2011: "Knochenfraktur nach Einsetzen eines orthopädischen Implantates, einer Gelenkprothese oder einer Knochenplatte". Die Kodierung der M96.6 als Nebendiagnose sei nicht vom Wortlaut her bereits ausgeschlossen, wie das LSG Baden- Württemberg im dortigen Fall (L 4 KR 4155/15 vom 10.10.2017, juris, Rdn. 29) angenommen habe, weil dort die intraoperative Absprengung des Femurnagels während und nicht nach einer medizinischen Maßnahme geschehen sei. Anders als in dem vom LSG Baden- Württemberg entschiedenen Fall habe bei der hier behandelten Patientin bereits vor der Operation, die hier zu kodieren gewesen sei, ein Kunstgelenk vorgelegen, das bereits viele Jahre zuvor implantiert worden sei. Ebenfalls sei die hier zu beurteilende Situation nicht vergleichbar den Fällen, wie sie den von der Beklagten genannten Entscheidungen der Sozialgerichte Berlin (S 89 KR 1936/11 und Dortmund S 8 KR 37/14) zu Grunde gelegen hätten: In dem vom Sozialgericht Berlin entschiedenen Fall sei zwar wie hier der Knochen beim Einsatz des Prothesenschafts gespalten. Anders als hier habe aber zuvor kein Kunstgelenk vorgelegen und der Prothesenschaft sei trotz des erzeugten weiteren Knochenbruchs nicht wieder entfernt, sondern am Ort belassen worden, ein höherer Aufwand sei somit auf Grund des Einsatzes des Prothesenschafts nicht entstanden. Im Fall des Sozialgerichts Dortmund habe nicht wie hier bereits seit Jahren ein Kunstgelenk vorgelegen, sondern es habe gerade erst implantiert werden sollen. Der (erste und einzige) Knochenbruch sei auch dort – anders als im hier zu beurteilenden Fall – beim erstmaligen Einsatz des Kunstgelenks verursacht worden. Im Fall des SG Augsburg (S 6 KR 449/11 vom 30.7.2013) werde die Kodierung der Nebendiagnose M96.6 neben S72.3 in einem Fall als zulässig angesehen, in dem bereits vor der streitigen Operation ein Kunstgelenk implantiert worden sei.

Die Beklagte hat gegen das ihr am 25.07.2019 zugestellte Urteil am 24.08.2019 Berufung eingelegt, mit der sie weiterhin geltend macht, dass der Kode S72.3 die Situation spezifischer abdecke als der Kode M96.6, da letzterer keinen Organbezug aufweise. Zudem würde die Berücksichtigung beider Kodes eine unzulässige Doppelkodierung bedeuten. Nach Ansicht des MDK sei nicht nachgewiesen, dass ein weiterer Bruch beim Einsetzen der neuen Prothese entstanden sei. Zudem sei mit dem LSG Baden-Württemberg davon auszugehen, dass Brüche beim Einsetzen der Prothese nicht vom Wortlaut des Kodes ("nach") erfasst seien. Die Aussagen des DIMDI seien weder bindend noch überzeugend.

Die Beklagte beantragt,

unter Aufhebung des Urteils des Sozialgerichts vom 11. Juli 2018 die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Prozessakte sowie der Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung ist statthaft, form- und fristgerecht gem. §§ 143, 151 Abs. 1 und 3 Sozialgerichtsgesetz (SGG) und daher zulässig.

Sie hat in der Sache jedoch keinen Erfolg. Das Urteil des Sozialgerichts ist nicht zu beanstanden und arbeitet alle sich in diesem Fall stellenden Fragen im Ergebnis zutreffend ab.

Es ist dabei nochmals auf die entscheidenden Gesichtspunkte hinzuweisen:

Als erstes ist festzustellen, dass hier 2 Brüche vorgelegen haben und auch behandelt wurden. Dies unterscheidet den vorliegenden Fall ganz wesentlich von vielen Fällen, die den von der Beklagten benannten Urteilen zugrunde lagen.

Zum einen war da der Sturz, der zu einem Bruch des Oberschenkels führte, der wiederrum Grund für die stationäre Aufnahme war. Dieser Bruch führt zu der Hauptdiagnose S72.3.

Zum anderen ist während der OP beim Einsetzen der 26cm-Brehm-Prothese ein neuer Bruch entstanden, der mit dem ersten "Sturz-Bruch" unmittelbar nichts zu tun hatte und daher auch von der Hauptdiagnose S72.3 in keiner Weise miterfasst ist. Bei der Frage, ob für diesen zweiten Bruch der Kode M96.6 zur Anwendung kommt, geht es nicht um eine Doppelkodierung der ersten Bruchs, sondern um die gesonderte Betrachtung dieses zweiten Bruches.

Der MDK (und ihm folgend der Prozessbevollmächtigte der Beklagten) zweifelt in seinem Gutachten vom 28. Dezember 2015 daran, dass der zweite Bruch durch das Einsetzen der 26cm-Brehm-Prothese entstanden ist und geht davon aus, dass dieser Bruch schon zuvor entstanden sei. Diese Sichtweise ist nach den Ausführungen von Dr. K. in seiner ergänzenden Stellungnahme vom 21. November 2016 und den ausführlichen Erläuterungen in der mündlichen Verhandlung unter Auswertung der entsprechenden Röntgenaufnahmen nicht haltbar. Dabei kann es dahinstehen, ob der Bruch beim Einsetzen der neuen Prothese oder bei den damit in direktem Zusammenhang stehenden vorbereitenden Maßnahmen (Ausbohren des Knochens) entstanden ist. Für den Senat steht zumindest fest und ist tatbestandlich entscheidend, dass der Bruch im direkten Zusammenhang mit dem Versorgen der Versicherten mit einer neuen Prothese entstanden ist.

Nach Ansicht des Senates ist ein solches Geschehnis vom Kode M96.6 erfasst. Soweit das LSG Baden-Württemberg in der genannten Entscheidung meint, dass diese Konstellation vom Wortlaut des Kodes nicht erfasst sei, weil der Bruch "beim" Einsetzen nicht "nach" dem Einsetzen erfolgt sei, folgt der Senat dem nicht. Fest steht, dass der ICD-10 seit 2016 zu M96.6 einen Hinweis enthält, dass gerade nur der Fall des Bruches "beim" Einsetzen erfasst seinen soll. Wie dieser Hinweis zeigt, ist eine Interpretation im Sinne des Erfassens eines Bruchs bei Einsatz der Prothese nach Auffassung der Kodegeber durchaus vom Wortlaut erfasst. Diese Frage war zuvor umstritten; beide Interpretationen wurden also vertreten. Der Hinweis ist daher nach Auffassung des Senats als eine Klarstellung zu verstehen. Der Annahme einer inhaltlichen Änderung steht schon entgegen, dass der Wortlaut des Kodes nicht geändert worden ist. Hätte der Kodegeber die vorliegende Konstellation als nicht vom Wortlaut erfasst angesehen, wäre es zwingend nötig gewesen, nicht nur einen (klarstellenden) Hinweis aufzunehmen, sondern den Wortlaut des Kodes selbst zu ändern. Konsequent gedacht müsste das LSG Baden-Württemberg seit Einfügen des Hinweises davon ausgehen, dass ein in sich widersprüchlicher Kode vorliegt, da der Hinweis nicht mit der Wortlautinterpretation des LSG zu vereinen ist.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a SGG i.V.m. § 154 Abs. 1 VwGO. Gründe vor die Zulassung der Revision sind nicht ersichtlich.
Rechtskraft
Aus
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