Entlassmanagement

Der bürokratische Exzess des G-BA

  • Controlling
  • Management
  • 04.03.2024

Der G-BA schließt den Kliniksektor bisher aus der Entwicklung der Richtlinie über Leistungen zur medizinischen Rehabilitation aus. Das könnte den bürokratischen Aufwand und die Kosten für Krankenhäuser weit in die Höhe treiben. 

Mit der Entwicklung der Richtlinie über Leistungen zur medizinischen Rehabilitation durch Neuaufnahme des § 16 Anschlussrehabilitation, verabschiedet ohne Möglichkeit einer Stellungnahme durch die betroffenen Krankenhäuser, treibt der G-BA ohne Datengrundlage und Evidenz den bürokratischen Aufwand und die Kosten für Krankenhäuser in die Höhe, da das Verständnis für Prozesse im Krankenhaus und die damit verbundenen Kosten im methodischen Werkzeugkasten zu fehlen scheinen.

Testphase zwischen KIS und Kassen ohne Kliniken

Am 16. Dezember 2021 hat der G-BA die Richtlinie über Leistungen zur medizinischen Rehabilitation aktualisiert und dabei im Abs. 2 zum neu aufgenommenen § 16 Anschlussrehabilitation den Satz aufgenommen: „Die Darlegung der Beeinträchtigungen der Aktivitäten und Teilhabe erfolgt mit dem SINGER Patientenprofil.“ Das ist bei allen Anträgen für eine Anschlussrehabilitation (AR) auszufüllen. Die Selbstverwaltung beschloss am 1. April 2023 eine Vereinbarung über das Verfahren zur Übermittlung von Daten zwischen den Krankenhäusern und den gesetzlichen Krankenkassen bei einer AR (§ 301 Abs. 3 SGB V Datenübermittlungs-Vereinbarung). Die technischen Anlagen zu dieser Datenübermittlungs-Vereinbarung wurden am 8. November 2023 verabschiedet.

Die Hersteller der Krankenhausinformationssysteme (KIS) und weitere Softwareanbieter sollten die Spezifikationen in Programmkodes übersetzen. Die Testphase der Kommunikation zwischen den KIS und den Krankenkassen findet ohne Beteiligung der Krankenhäuser statt. Ausgewählte Krankenhäuser prüfen in der anschließenden Pilotphase die Funktionsfähigkeit und Praktikabilität. Ohne ein freies Intervall zur Evaluation der Erfahrungen der Pilotkrankenhäuser und der Umsetzung gegebenenfalls erforderlicher Verbesserungen beginnt der dreimonatige Roll-out am 1. Juli 2024. Ab dem 1. Oktober 2024 sollen Anträge auf AR ausschließlich digital im §301-DTA-Verfahren an die Krankenversicherungen übermittelt werden (Abbildung).

Informationen zu dem Verfahren werden seitens der Krankenhausgesellschaften ohne Bezugnahme auf erforderliche Prozessänderungen im Entlassungsmanagement unter Rubriken wie „Digitalisierung-Daten/Elektronische Datenübermittlung/Antrag Anschlussrehabilitation“ (Deutsche Krankenhausgesellschaft) oder „Sektorenübergreifende Versorgung“ (Bayerische Krankenhausgesellschaft) veröffentlicht, da die Änderung nur als technische Erweiterung in der §301-Kommunikation angesehen wurde. Diese Rubriken stehen meist nicht im Fokus an Medizincontrolling und Entlassmanagement, also von den Beschäftigten, die am ehesten von den praktischen Konsequenzen betroffen sind. 

Keine Ermittlung der Bürokratiekosten 

Nach Rückfragen zur Bürokratiekostenermittlung verwies der G-BA auf die tragenden Gründe: „Dieser neue Aufwand zur Dokumentation von mindestens zwei Testergebnissen geht mit einem zeitlichen Aufwand von etwa 30 Sekunden einher, wird bei rund 25.000 Verordnungen pro Jahr angenommen und kann mit zusätzlichen Bürokratiekosten in Höhe von geschätzt 11.104 Euro (53,30 / 60 x 0,5 x 25.000) bemessen werden.“ 

Diese Berechnung bezieht sich im Kontext der Erläuterungen auf den Aufwand von Vertragsärzten beim Beantragen einer geriatrischen Rehabilitation gemäß § 15 der Richtlinie durch die Neufassung des Verordnungsformulars 61 der Kassenärztlichen Vereinigung. Ein Bürokratiekostenaufwand für Krankenhäuser durch die Änderung vom Barthel-Index zum SINGER-Patientenprofil ist in den tragenden Gründen nicht erwähnt.

Bei etwa 17.000.000 stationären Fällen und einem (hypothetischen) Anteil von sechs Prozent mit Rehabilitationsbedarf entsteht durch die obligate Untersuchung der neun kognitiven ICF-Items ein Bedarf von rund 1.000 zusätzlichen Fachkräfte für das Ausfüllen der AR-Anträge. Diese Fachkräfte würden mindestens 70 Millionen Euro Bruttopersonalkosten erzeugen, wenn sie auf dem Arbeitsmarkt verfügbar wären. Durch das Einsetzen der Annahmen zum Rehabilitationsbedarf in die Formel des G-BA für den Aufwand der Datenübermittlung entstehen weitere 2 Millionen Euro Kosten (53,30 / 60 x 0,5 x 9 / 2 [Items] x 1.000.000 Anträge). Weitere Aufwände entstehen beispielsweise durch Anpassungen im KIS, Mitarbeiterschulungen und das Fehlerverfahren. Den Aufwand für die Durchführung und Dokumentation der zusätzlich erforderlichen Testverfahren hat der G-BA ignoriert.

Fehlende Evidenz und Datensparsamkeit 

Das SINGER-Patientenprofil (Selbstständigkeitsindex für die Neurologische und Geriatrische Rehabilitation) ist ein Assessment-Instrument für Qualitätssicherung, das auf der ICF (International Classification of Functioning, Disability and Health) basiert. 

Mitarbeitende der Klinik Schloss Pulsnitz und der Rehabilitationsklinik Hetzdorf haben das SINGER-Patientenprofil im Wesentlichen entwickelt. Auf der Website wird der Stellenwert dieses Instruments für den rehabilitativen Sektor beschrieben sowie auf die wissenschaftliche Begleitung der damit verbundenen Evaluation und Forschung durch das Hochrheininstitut für Rehabilitationsforschung sowie das Institut für Qualitätsmanagement und Sozialmedizin am Universitätsklinikum Freiburg verwiesen. Akutstationäre Krankenhäuser waren weder an der Entwicklung noch an der Evaluation der Anwendung beteiligt.

Die an der Erhebung des Scores beteiligten Berufsgruppen und die von ihnen zu bewertenden Domänen sowie Items der ICF sind in Tabelle 1 aufgelistet. Zu jedem Item ist ein Grad der Selbstständigkeit mit einem Punktwert zwischen 0 und 5 anzugeben (Tabelle 2).

Die Zielrichtung für die Anwendung des Scores ist die strukturierte Behandlungsplanung und die Bewertung des Therapieerfolges bei einer Rehabilitation. Inhaltlich entsprechen die Items weitgehend dem vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) für Aspekte der ICD-Klassifikation genutzten Barthel-Index in Kombination mit der Erweiterung für kognitive Funktionen, wobei die Differenzierung der Punktwerte eher dem FIM (Functional Independence Measure) entspricht.

Neu ist die stärkere Ausdifferenzierung von zwei bis vier Graden im Barthel-Index auf einheitliche sechs Grade. Auf der Website zum SINGER-Patientenprofil wird eine Mapping-Tabelle zwischen den Items für die Domänen Selbstversorgung sowie Mobilität und dem Barthel-Index vorgeschlagen. Dieses Mapping ist nicht konsistent und enthält im Bereich Mobilität eine zusätzliche Wenn-dann-Bedingung für Patienten, die gehfähig sind, aber unter bestimmten Umständen einen Rollstuhl nutzen.

Lange Liste an Fragen und Mängeln

Positiv ist der Ansatz zu bewerten, dass die digitale Kommunikation zwischen Krankenkassen und Krankenhäusern via TI (Telematikinfrastruktur) und KIM (Kommunikation im Medizinwesen) laufen soll.

Die Liste der Contras mit sowohl offenen Fragen und Logik- sowie Syntaxfehlern als auch der fehlenden Beachtung der Prozesse im Entlassmanagement ist deutlich länger. Die wesentlichen Punkte unter Bezugnahme auf die technische Anlage und die Durchführungshinweise zu Vereinbarungen lauten:

  • In den Durchführungshinweisen ist von einer „Papierversion des Ärztlichen Befundberichtes“ als „begrenzt ausfüllbares PDF-Dokument“ mit einer Funktionalität zur Zusammenfassung der Punkte je ICF-Item die Rede. Eine solche Darstellung ist sachlogisch falsch, da eine Papierversion einerseits nur manuelle Berechnungen gestattet und für eine Datenerfassung in einem KIS anderseits kein Medium in Form eines PDF-Dokumentes benötigt wird, wenn die Hersteller den Datensatz in die Programmierung des KIS aufnehmen.
  • Allenfalls ist ein Medienbruch mit Ausdruck des Antragsformulars erforderlich, da Unterschriften des Patienten beziehungsweise seines Vertreters oder Bevollmächtigten für den Antrag selbst sowie für die Datenübermittlung notwendig sind. Inkonsistent ist, dass die Kassen die Bestätigung über die geleisteten zwei Unterschriften wieder in Form von drei Häkchen im digitalen Formular einfordern, obwohl gleichzeitig eine Aufbewahrungspflicht der Krankenhäuser besteht. 
  • Erklärungsbedürftig ist der Punkt 2.2 der Durchführungshinweise der DKG: „Stellt die Krankenkasse fest, dass sie nicht der zuständige Rehabilitationsträger ist, druckt sie die Antragsdaten sowie den ärztlichen Befundbericht aus, und leitet die Unterlagen gemäß den gesetzlichen Vorgaben und Fristen außerhalb dieses Datenaustauschverfahrens an den zuständigen Rehabilitationsträger (z. B. Rentenversicherung) weiter. Die Krankenkasse sendet in diesen Fällen außerdem eine Antwort-Nachricht mit Antwortkennzeichen ‚4‘ an das Krankenhaus.“ Das heißt, dass zukünftig jeder Antrag auf eine AR an die Krankenkasse des Versicherten zu übermitteln wäre, diese ihre Zuständigkeit prüft und dann den Antrag gegebenenfalls weiterleitet. Das würde folglich alle Patienten betreffen, bei denen die Rentenversicherung oder eine Berufsgenossenschaft als Kostenträger eintritt. Um Missverständnisse zu vermeiden, wäre es sinnvoll, eine entsprechende Regelung in der Rahmenvereinbarung Entlassmanagement festzulegen und dabei auch die Rentenversicherungen einzubeziehen. Ein drastisches Beispiel für das Fehlen einer Interoperabilität bleibt dabei die beschriebene Form der Datenübermittlung an Dritte. Es ist zu befürchten, dass sich Genehmigungsprozesse für die Rehabilitation durch die zusätzliche Schnittstelle verlängern.
  • Kritisch zu bewerten ist das Fehlerverfahren, das zu großen Teilen als Plausibilitätskontrolle in das KIS integriert werden soll. Leere oder falsch ausgefüllte Felder verhindern eine Übermittlung des Antrags. Zahlreiche Felder sind zudem als Muss-Felder definiert, obwohl die entsprechenden Informationen entweder nicht erhoben werden können oder aufgrund anderer Prozesse zum Zeitpunkt der Antragstellungen noch nicht zur Verfügung stehen.
  • Es fehlt für verschiedene obligate Datenfelder wie zum Beispiel „Altersrente“, „Erwerbsminderungsrente“, „Stockwerk“ oder „Aufzug“ (Aufzählung nicht abschließend) die Antwortoption „unbekannt“. Besonders problematisch sind die geforderten Funktionsdiagnosen und Prozeduren, jeweils obligat mit Angabe des ICD- und OPS-Kodes. Funktionsdiagnosen (Terminus technicus) sind aus klassifikatorischer Sicht Kodes aus den Bereichen „U50.-“ bis „U52.-“, also dem Barthel-Index, dem FIM oder dem MMSE (Mini Mental State Examination). Gemeint sind die Erkrankungen, die den Rehabilitationsbedarf ausgelöst haben. Es bedarf der Berücksichtigung der standardisierten Nomenklaturen bei Feldbezeichnungen oder Ausfüllhinweisen. Die praktische Schwierigkeit für den Sozialdienst besteht darin, dass die vollständige Kodierung oft erst fallabschließend nach Evaluation aller Befunde sowie Behandlungen erfolgt und die Diagnosen sowie Eingriffe zum geforderten frühestmöglichen Zeitpunkt der Antragstellung oft nur als Freitext in der Krankenakte zur Verfügung stehen. Ohne eine fallbegleitende Kodierung ist es zukünftig nicht möglich, AR-Anträge zeitnah zu stellen.
  • Falsch ist die Festlegung, dass das Nachrichtensegment für angefragte Rehabilitationskliniken nur einmal vorkommen darf. Bei bekannten Kapazitätsengpässen werden durch den Sozialdienst häufig drei bis fünf oder mehr infrage kommende Reha-Kliniken angefragt.
  • Falsch ist, das (geplante) Aufnahmedatum in die Rehabilitationsklinik unterschiedlich als Aufnahmedatum oder als Verlegungsdatum (auch im Zusammenhang mit einer Aufnahme innerhalb von 14 Tagen oder nach mehr als 14 Tagen) zu bezeichnen.
  • Durch die Nutzung des SINGER-Patientenprofils entfällt nicht die Notwendigkeit der Erhebung des Barthel-Index als Grundlage der DRG-relevanten Kodierung und der Abrechnung sowie der Kommunikation mit Rehabilitationskliniken. Die von den SINGER-Patientenprofil-Entwicklern vorgeschlagene Rückrechnung der Items auf den Barthel-Index ist nicht in allen Punkten klassifikatorisch konsistent und nicht vom BfArM für die Klassifikation sowie vom Institut für das Entgeltsystem im Krankenhaus (InEK) für die Vergütung freigegeben.
  • Die zusätzliche obligate Erfassung der kognitiven Funktionen durch Neuropsychologen, Logopäden und Ergotherapeuten für jeden AR-Antrag kostet pro Fall zusätzlich circa 1,5 Stunden (neun Items à zehn Minuten) zusätzliche Arbeitszeit für die Untersuchung und dezidierte Dokumentation der Ergebnisse, da die reine Punktangabe einer Prüfung durch den Medizinischen Dienst nicht standhalten würde.
  • Nicht bedacht ist der Umstand, dass in verschiedenen Regionen bereits heute eine unmittelbare Verlegung in die Rehabilitation nicht möglich ist und eine Übergangspflege zusätzlich zu beantragen ist. Sinnvoll wäre die Möglichkeit, diese Interimsversorgung innerhalb des Formulars zu beantragen.

Konsequenzen: mehr Aufwand und Kosten

Eine durch Daten belegte Verbesserung der Versorgungsqualität wurde durch den G-BA nicht als Begründung für den auf Druck der gesetzlichen Krankenversicherungen initiierten Wechsel vom Barthel-Index zum SINGER-Patientenprofil angeführt. Stattdessen wird ein zusätzlicher Personalaufwand bei bereits bestehendem Fachkräftemangel und damit zusätzliche Kosten ohne Entlastung in anderen Bereichen generiert. Die Alternative, alle möglichen Datenfelder durch Default-Werte zu befüllen und nur die unbedingt notwendigen Korrekturen zu ergänzen, um den Antrag ohne Fehlermeldungen und mit geringem Ressourceneinsatz zeitnah stellen zu können, entspricht sicher nicht den Wünschen der GKV-Datenkrake. Es verfestigt sich der Eindruck, dass der G-BA die Begriffe Datensparsamkeit, Kosteneinsparung und Entbürokratisierung anders interpretiert als die überwiegende Mehrheit der Leistungserbringer.

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