Kinderkliniken am Limit: Die herbeigesparte Krise

Der Notstand in den Kinderkliniken wurde durch deren Ökonomisierung geschaffen. Nötig sind tiefe Reformen, kein akutes Krisenmanagement.

Ein dreckiges Schild weist auf den Eingang zur Kinderklinik hin

Auch diese Kinderklinik hat schon mal sauberere Schilder gesehen Foto: dpa

Das hätte ja wirklich niemand ahnen können: Der Winter ist da und mit ihm die Grippewelle, das bringt die Kinderkliniken in Berlin wie in ganz Deutschland an ihre Grenzen. Unter Vi­ro­lo­g:in­nen ist es zwar ein Gemeinplatz, dass auf sanftere Grippesaisons eine härtere Welle folgt. Auch war gemeinhin bekannt, dass die Coronamaßnahmen die Grippewellen in den vergangenen zwei Jahren weitestgehend unterdrückten.

Trotzdem hat es Politik und Klinikleitungen vom Hocker gehauen, dass das RS-Virus (kurz für Respiratorisches Synzytial-Virus), das besonders für Säuglinge, Kleinkinder und Menschen mit Immunschwäche gefährlich werden kann, in diesem Jahr besonders durchschlägt. Laut Robert-Koch-Institut bewegen sich die Zahlen bereits jetzt auf dem Niveau der schweren Grippewelle 2017/18.

Also macht Berlins Gesundheitssenatorin Ulrike Gote (Grüne) das, was Po­li­ti­ke­r:in­nen am Besten können: Sie spielt sich als große Krisenmanagerin auf, als Retterin in der Not, die die Ärmel hochkrempelt und zupackt, wo es eben nötig ist. Da werden die Kliniken angehalten, Personal aus Erwachsenenstationen auf die Pädiatrie umzuverlegen. Da werden planbare Operationen verschoben und Abkommen mit Brandenburg geschmiedet, damit Berliner Kinder leichter dorthin geschafft werden können, wenn in Berlin alle Betten voll sind. Und Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) kommt mit dem Vorschlag um die Ecke, die Personaluntergrenzen außer Kraft zu setzen.

Auf dem Rücken der Beschäftigten

Im Klartext heißt das: Gelöst wird die Krise auf dem Rücken der Beschäftigten. Business as usual im Gesundheitswesen also, das seit Jahrzehnten durch falsche Profitanreize und Kürzungen so kaputtgespart wird, dass sich die Pfle­ge­r:in­nen permanent im Krisenmodus befinden. So berichtet etwa Mila-Malayn Saremski, Pflegerin auf einer Neointensiv-Station für Früh- und Neugeborene der Charité, der taz: „Vor zehn Jahren haben wir mit sechs Pfle­ge­r:in­nen zehn Betten versorgt. Heute sind es doppelt so viele Betten mit demselben Personal.“

Der Vorschlag, dass die Personaluntergrenzen ausgehebelt werden sollen, zeugt von einer politischen Geisteshaltung, die Beschäftigte für beliebig verbiegbare Knetmasse hält. Auch der Vorschlag aus Gotes Verwaltung, Personal aus Erwachsenenstationen abzuziehen, ist Resultat davon. „Die neuen Kol­le­g:in­nen sind nur wenig Hilfe, bis sie eingearbeitet sind“, sagt Pflegerin Saremski dazu.

Kinderkliniken trifft das System besonders, weil sich Kinder nicht an die die eng getakteten Behandlungszeiten halten, die das System vorschreibt.

Auch geht das Arbeiten in einer Pädiatrie mit besonderen psychischen Belastungen einher. Ulla Hedemann, Pflegerin auf einer Kinderintensivstation am Virchow-Klinikum der Charité, sagt: „Für viele Kol­le­g:in­nen ist die Pädiatrie eine rote Linie. Sie sagen: Ich sehe jeden Tag viel Leid, das kann ich, aber nicht mit Kindern.“ Und dennoch gebe es unter den Kol­le­g:in­nen eine große Bereitschaft zu unterstützen.

Ebenfalls ein zweischneidiges Schwert ist, dass es künftig einfacher sein soll, Pa­ti­en­t:in­nen nach Brandenburg zu verlegen. Einerseits hilft es natürlich, wenn die Kliniksysteme so geupdated werden, dass Ärz­t:in­nen in Echtzeit sehen, wo noch Kapazitäten verfügbar sind.

Transporte sind eine große Belastung

Anderseits sind solche Transporte für die jungen Pa­ti­en­t:in­nen eine große körperliche wie psychische Belastung. „Wir haben schon Kinder nach Frankfurt/Oder geschickt, das sind über 100 Kilometer“, berichtet Pflegerin Hedemann. Auch für die Eltern sei die Entfernung eine Belastung – auch finanziell. „Ärmere Eltern können sich vielleicht gar nicht leisten, ihr Kind zu besuchen“, so Hedemann.

Nun ließe sich sagen: Viele der Maßnahmen, die Gote diese Woche verabschiedet hat, mögen schlecht für die Beschäftigten sein, doch sie sind in der aktuellen Situation unumgänglich. Aber welche Farce ist es, sich auf die mangelnden Alternativen in einem Systems zu berufen, das seit Jahrzehnten gegen die Wand gefahren wird?

Personalnotstand war erwartbar

Nicht nur die Infektwelle war erwartbar, sondern auch der Personalnotstand. Der heftige Arbeitskampf der Berliner Krankenhausbewegung im vergangenen Jahr hat wirklich für je­de:n offensichtlich gemacht, dass die Beschäftigten die Schnauze voll haben, dass sie hinschmeißen, weil auf die Klatscherei in der Pandemie keine Taten gefolgt sind. „Jeden Tag unter Stress zu arbeiten, jeden Tag ans Limit gehen zu müssen und immer das Gefühl zu haben, weder sich sich selbst noch den Pa­ti­en­t:in­nen gerecht zu werden. Das macht einfach unglücklich“, sagt Hedemann.

Angegangen werden müssen deshalb dringend die systemischen Missstände. Verantwortlich ist da in erster Linie der Bund, der mit dem Fallpauschalsystem das Joch des Kapitalismus ins Gesundheitswesen eingeführt hat. Seit es erlaubt wurde, mit dem Heilen von Menschen Kapital zu akkumulieren, sind Personalkosten zum profithemmenden Kostenfaktor geworden – auch daher rührt der Personalnotstand.

Kinderkliniken trifft das System besonders, weil sich Kinder nicht an die die eng getakteten Behandlungszeiten halten, die das System vorschreibt. Jede Minute, die es braucht, um ein Kind zum Beispiel vor dem Blutabnehmen zu beruhigen, kostet einem Krankenhaus Geld.

Dass die von Bundesgesundheitsminister Lauterbach angepriesene „Revolution“ des Gesundheitswesens in ihrer jetzigen Form ernsthaft Abhilfe schafft, wird von Kri­ti­ke­r:in­nen bezweifelt. Aber auch Gesundheitssenatorin Gote macht es sich zu einfach, wenn sie einfach auf den Bund verweist. Seit Jahren investiert Berlin zu wenig Geld in die Infrastruktur der Krankenhäuser. Die Berliner Krankenhausgesellschaft beklagt, inzwischen sei ein Investitionsstau von mehr als 2 Milliarden Euro angelaufen. Dieses Geld holen sich die Krankenhäuser zurück, indem sie am Personal sparen.

Auch wenn es stimmt, dass die Investitionen in Berlin langsam, aber stetig ansteigen sollte der rot-grün-rote Senat, bevor er auf den Bund verweist, deshalb erst einmal vor der eigenen Haustür kehren. Letztlich führt aber kein Weg daran vorbei, das ganze Profitprinzip im Gesundheitswesen auf den Müll befördern – denn genau da gehört es hin. Dass Lauterbach das System verändern will, könnte dafür ein guter Anlass sein. Vielleicht ist es ja noch nicht zu spät, aus den Reförmchen einen tatsächlichen Neuanfang zu schustern.

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