Inhalt

LSG München, Beschluss v. 26.08.2020 – L 4 KR 325/20 B ER
Titel:

Versorgung mit dem Fertigarzneimittel Bevacizumab (Handelsname Avastin) zur Behandlung eines rezidivierten Glioblastoms

Normenketten:
SGB V § 2 Abs. 1a, § 31 Abs. 1 S. 1, § 35c
SGG § 86b Abs. 2 S. 2
GG Art. 2 Abs. 1
Leitsätze:
1. Die Behandlung eines rezidivierten Glioblastoms mit dem Fertigarzneimittel Avastin kann mangels indikationsbezogener Zulassung grundsätzlich nicht zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung verlangt werden. (Rn. 19)
2. Es besteht nach Einschätzung des Senats im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes kein Anspruch auf Versorgung mit Avastin im Rahmen eines sog. Off-Label-Use. (Rn. 20 – 27)
3. Die Ergebnisse der im November 2017 veröffentlichten Phase III-Studie zu Bevacizumab in der Rezidivtherapie eines Glioblastoms lassen nicht erwarten, dass Avastin eine Zulassungserweiterung zur Behandlung von Glioblastomen erhalten wird. (Rn. 26 – 27)
4. Zum Vorliegen einer notstandsähnlichen Situation bei grundrechtsorientierter Auslegung im Falle des Antragstellers bei begleitenden, rezidivierenden Zystenbildungen im Gehirn. (Rn. 28 – 32)
Schlagworte:
Krankenversicherung, Glioblastom, Avastin, Bevacizumab, off-label-use, Zulassungserweiterung, Studie, grundrechtsorientierte Auslegung, notstandsähnliche Situation, einstweiliger Rechtsschutz
Vorinstanz:
SG Regensburg, Beschluss vom 23.07.2020 – S 16 KR 992/20 ER
Fundstelle:
BeckRS 2020, 23905

Tenor

1. Die Beschwerde der Antragsgegnerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Regensburg vom 23. Juli 2020 wird zurückgewiesen.
2. Die Antragsgegnerin hat die außergerichtlichen Kosten des Antragstellers auch im Beschwerdeverfahren zu erstatten.

Gründe

I.
1
Der Antragsteller und Beschwerdegegner (im Folgenden Antragsteller) begehrt im Wege der einstweiligen Anordnung die Versorgung mit dem Fertigarzneimittel Bevacizumab (Handelsname Avastin) zur Behandlung eines rezidivierten Glioblastoms.
2
Bei dem 1968 geborenen Antragsteller wurde am 16.03.2018 ein bösartiger Hirntumor vom Typ Glioblastoma multiforme, WHO Grad IV, IDH Wildtyp (ICD-10: C 71.3) diagnostiziert. Nach Tumorresektion am 19.03.2018 erfolgte eine adjuvante kombinierte Radiochemotherapie mit Temozolomid sowie eine adjuvante Chemotherapie mit Temozolomid. Nach Auftreten eines ersten Rezidivs wurde am 28.11.2018 erneut eine Tumorresektion durchgeführt mit nachfolgender Chemotherapie mit CCNU und Procarbazin, Rezidivstrahlentherapie und Therapie mit Regorafenib.
3
Am 20.05.2020 beantragte das Universitätsklinikum R-Stadt (im Folgenden: Uni-Klinikum) die Kostenübernahme für einen individuellen Heilmittelversuch mit dem humanisierten monoklonalen Antikörper Bevacizumab im Off Label Use. Beim Antragsteller bestehe aktuell ein erneuter Tumorprogress (MRT-Aufnahmen vom 16.03.2020 und 14.05.2020). Laut Fallkonferenz vom 19.05.2020 sei eine erneute Rezidivresektion oder Strahlentherapie nicht indiziert. Die Standard-Chemotherapie sei ausgereizt. Es bleibe als einzige mit einer Wahrscheinlichkeit von 40% wirksame Behandlung eine antiangiogene Therapie mit Bevacizumab. Beim Antragsteller lägen keine spezifizierbaren Risiken für Nebenwirkungen von Bevacizumab vor. Die im Jahr 2014 veröffentliche BELOB-Studie habe eine gute Wirksamkeit von Bevacizumab in Kombination mit Lomustin gezeigt. Die Kombinationstherapie sei in der Zulassungsstudie EORTC 26101 erneut untersucht worden (Wick et al., Neuro-Oncology 2015). Hier sei das primäre Studienziel einer Verbesserung des Gesamtlebens zwar verfehlt worden, es sei jedoch zu einer deutlichen Verbesserung des progressionsfreien Überlebens von 1,5 auf 4,2 Monate gekommen. Dies bedeute eine Halbierung des Progressionsrisikos bei mit Bevacizumab behandelten Patienten im Vergleich zu nur mit Lomustin behandelten Patienten. Auffällige Nebenwirkungen seien nicht aufgetreten. Die Lebensqualität sei in beiden Behandlungsarmen vergleichbar gewesen. Es sei ein streng kontrollierter Therapieversuch über zunächst acht Wochen geplant. Die Kosten hierfür beliefen sich etwa auf 6.000 Euro pro Monat.
4
Die Antragsgegnerin und Beschwerdeführerin (im Folgenden: Antragsgegnerin) lehnte den Antrag mit Bescheid vom 25.05.2020 ab. Der Hersteller habe den Antrag auf Zulassungserweiterung von Bevacizumab für diese Indikation auf Grund einer negativen Stellungnahme der europäischen Zulassungsbehörde (European Medicines Agency - EMA) zurückgezogen. Dies komme einer Ablehnung gleich. Somit bestehe keine Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV). Dies gelte auch für eine Off-Label-Use-Anwendung. Auch verfassungsrechtlich sowie nach § 2 Abs. 1a Sozialgesetzbuch (SGB V) bestehe bei dieser Konstellation kein Spielraum für eine positive Einzelfallentscheidung.
5
Dagegen erhob der Antragsteller Widerspruch und legte eine Beurteilung des Zentrums für Hirntumoren des Uni-Klinikums vom 30.06.2020 vor. Danach verursache die Ödemflüssigkeit beim Antragsteller immer wieder flüssigkeitsgefüllte Zysten. Die Gabe von Bevacizumab stelle die einzig sinnvolle therapeutische Möglichkeit dar, hier eine auch nur mittelfristige Stabilisierung zu erreichen.
6
Der von der Antragsgegnerin eingeschaltete Medizinische Dienst der Krankenversicherung in Bayern (MDK) führt im sozialmedizinischen Gutachten vom 09.06.2020 aus, dass Bevacizumab bekanntermaßen eine sehr starke antiödematöse Wirkung habe. Die Indikationsstellung könne daher medizinisch nachvollzogen werden. Nach der Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG) zu Bevacizumab (Urteil vom 13.12.2016, B 1 KR 10/16 R) sei aber eine Verordnung von Bevacizumab zu Lasten der GKV in der vorliegenden Situation nicht möglich.
7
Am 08.07.2020 hat der Antragsteller einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung beim Sozialgericht Regensburg (SG) gestellt. Aufgrund der rezidivierenden Ödembildungen, welche die Zyste immer wieder mit Flüssigkeit füllten, sei eine Therapie mit Bevacizumab dringend indiziert. Bevacizumab erzeuge keine unkalkulierbaren Risiken von Gesundheitsschäden. Die drei großen randomisierten Studien hätten sämtlich ein mit der Standardtherapie vergleichbares Nebenwirkungsprofil gezeigt.
8
Mit Beschluss vom 23.07.2020 hat das SG die Antragsgegnerin verpflichtet, dem Antragsgegner bis zu einer bestandskräftigen Entscheidung im Widerspruchsverfahren vorläufig die Therapie mit dem Arzneimittel Bevacizumab (Avastin) zur Behandlung des Glioblastoms nach Verordnung der behandelnden Ärzte als Sachleistung zu gewähren. Die Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung seien erfüllt. Die vorzunehmende Folgenabwägung falle zugunsten des Antragstellers aus. Mangels indikationsbezogener Zulassung des Fertigarzneimittels Avastin könne der Antragsteller die Behandlung seines Glioblastoms mit Bevacizumab zu Lasten der GKV nach § 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 Fall 1 i. V. m. § 31 Abs. 1 Satz 1 SGB V nicht verlangen. Er habe jedoch einen Anspruch nach § 2 Abs. 1a SGB V glaubhaft gemacht. Es liege unstreitig eine tödlich verlaufende Krankheit vor. Die begehrte neue Behandlungsmethode sei bei dem vorliegenden rezidivierenden Glioblastom die einzig verbleibende Therapieoption für den Antragsteller. Schließlich bestehe eine nicht ganz fernliegende Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf. Zwar habe das Bundessozialgericht in seinem Urteil vom 13.12.2016, B 1 KR 10/16 R, für eine vom 24.06. bis 02.09.2013 durchgeführte Behandlung eines rezidivierenden Glioblastoms mit Avastin festgestellt, dass es an einer aufgrund der Datenlage begründete Erfolgsaussicht für Avastin gegen Glioblastome fehle. Der Ständige Ausschuss für Humanarzneimittel der EMA habe in seinem Bericht das Präparat für diese Anwendung abgelehnt, woraufhin der Hersteller seinen Antrag nicht weiterverfolgt habe. Dies stünde einer förmlichen Ablehnung des Zulassungsantrages gleich. Ohne der Rechtsprechung des BSG zu widersprechen, halte es das Gericht (vgl. Sächsisches Landessozialgericht, Beschluss vom 05. Juni 2018 - L 9 KR 223/18 B ER) aufgrund von sich zwischenzeitlich ergebenden neuen Erkenntnissen (vgl. dazu BSG, Urteil vom 26.09.2006, B 1 KR 1/06 R, Rn. 22, juris) und unter Berücksichtigung des tatsächlichen Behandlungserfolges bei dem Antragsteller nicht für ausgeschlossen, dass der Nutzen der „last-line“- Therapie mit Bevacizumab und Irinotecan bei rezidivierenden Glioblastomen bei vertretbaren Risiken in Bezug auf das progressionsfreie Überleben wissenschaftlich zu belegen sei. Das Gericht gehe daher davon aus, dass bei dem Antragsteller durch die Gabe von Bevacizumab eine nicht ganz fernliegende Aussicht auf eine spürbar positive Entwicklung auf den weiteren Krankheitsverlauf bestehe. Auch ein Anordnungsgrund sei glaubhaft gemacht. Die medikamentöse Behandlung sei für den Antragsteller lebensnotwendig, so dass die Möglichkeit des Eintritts einer lebensbedrohlichen Situation nicht ausgeschlossen werden könne. Der Rechtsschutz durch die Hauptsache käme für den Antragsteller bei dieser Sachlage möglicherweise zu spät. Dagegen führe das Unterliegen der Antragsgegnerin allenfalls zu wirtschaftlichen Auswirkungen.
9
Gegen den Beschluss hat die Antragsgegnerin am 06.09.2020 Beschwerde zum Bayerischen Landessozialgericht erhoben und auf die Rechtsprechung des BSG und die sozialmedizinische Beurteilung des MDK verwiesen. Die im angefochtenen Beschluss vorgetragene Entscheidung des Sächsischen Landessozialgericht könne für den vorliegenden Fall nicht herangezogen werden, da dieser Entscheidung ein anderer Sachverhalt zugrunde gelegen habe. Eine Leistungspflicht für den Einsatz von Bevacizumab bestehe im vorliegenden Fall nicht.
10
Der Prozessbevollmächtigte des Antragstellers hat erneut darauf hingewiesen, dass nach Einschätzung der behandelnden Ärzte eine Therapie mit Bevacizumab aufgrund der rezidivierenden Ödembildungen dringend indiziert sei.
11
Die Antragsgegnerin beantragt sinngemäß,
den Beschluss des SG Regensburg vom 23.07.2020 aufzuheben und den Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz abzulehnen.
12
Der Antragsteller beantragt,
die Beschwerde zurückzuweisen.
13
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte, der beigezogenen Akte des Sozialgerichts und der Akte der Antragsgegnerin Bezug genommen.
II.
14
Die form- und fristgerecht (§§ 172, 173 Sozialgerichtsgesetz -SGG-) eingelegte Beschwerde der Antragsgegnerin ist zulässig, aber unbegründet. Das SG hat dem Antrag auf vorläufige Übernahme der Kosten für den geplanten Therapieversuch mit Avastin im Ergebnis zu Recht stattgegeben.
15
Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG kann das Gericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Hiervon ist dann auszugehen, wenn dem Antragsteller ohne eine solche Anordnung schwere und unzumutbare, nicht anders abwendbare Beeinträchtigungen entstehen, die durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr beseitigt werden können (BVerfG, Beschluss vom 12.05.2005, 1 BvR 569/05).
16
Der Erlass einer einstweiligen Anordnung setzt voraus, dass sowohl der geltend gemachte Anordnungsanspruch als auch der Anordnungsgrund vom Antragsteller glaubhaft gemacht sind (§ 86 b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 290 Abs. 2, § 294 Abs. 1 Zivilprozessordnung - ZPO). Anordnungsanspruch ist der materielle Anspruch, für den der Antragsteller vorläufigen Rechtsschutz sucht. Anordnungsgrund ist die Eilbedürftigkeit bzw. Dringlichkeit der begehrten vorläufigen Regelung. Ist das Obsiegen in der Hauptsache wahrscheinlich, sind an das Vorliegen des Anordnungsgrundes weniger strenge Anforderungen zu stellen. Sind die Erfolgsaussichten in der Hauptsache offen, sind die Folgen abzuwägen, die bei Erlass bzw. bei Nichterlass einer einstweiligen Anordnung entstehen würden. Hat das Hauptsacheverfahren keine Aussicht auf Erfolg, ist der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung auch dann abzulehnen, wenn ein Anordnungsgrund gegeben ist (vgl. Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, Kommentar zum Sozialgerichtsgesetz, 13. Auflage, § 86b Rdnr. 27).
17
Vorliegend ist die Versorgung mit einem Fertigarzneimittel zur Behandlung einer lebensbedrohlichen Erkrankung streitig. In einem solchen Fall darf die Versagung vorläufigen Rechtsschutzes nur auf eine eingehende Prüfung der Sach- und Rechtslage gestützt werden (vgl. BVerfG, Beschluss vom 25.02.2009, 1 BvR 120/09 Rn. 11). Ist eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage wegen der Eilbedürftigkeit nicht möglich, muss anhand einer Folgenabwägung entschieden werden: je schwerer die Belastungen des Betroffenen wiegen, die mit der Versagung des vorläufigen Rechtsschutzes verbunden sind, umso weniger darf das Interesse an einer vorläufigen Regelung zurückgestellt werden (vgl. BVerfG, a.a.O.).
18
Der Senat ist nach eingehender Prüfung zu dem Ergebnis gekommen, dass die Erfolgsaussichten des Hauptsacheverfahrens offen sind und die Folgenabwägung bei glaubhaft gemachtem Anordnungsgrund zugunsten des Antragstellers ausfällt.
19
Das SG hat zutreffend dargelegt, dass der Antragsteller die Behandlung seines rezidivierten Glioblastoms mit dem Fertigarzneimittel Avastin mangels indikationsbezogener Zulassung nicht zu Lasten der GKV nach § 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 Fall 1 i. V. m. § 31 Abs. 1 Satz 1 SGB V verlangen kann.
20
Der Antragsteller hat nach derzeitiger Einschätzung des Senats im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes auch keinen Anspruch auf Versorgung mit Avastin im Rahmen eines Off-Label-Use. Für einen Anspruch aus § 35c SGB V, der die zulassungsüberschreitende Anwendung von Arzneimitteln aufgrund von Empfehlungen des GBA und im Falle von klinischen Studien regelt, liegt nichts vor. Aber auch nach den vom BSG entwickelten Grundsätzen für einen Off-Label-Use kann der Antragsteller von der Antragsgegnerin die Übernahme der Kosten für den geplanten Therapieversuch mit Avastin nicht verlangen.
21
Danach kommt ein Off-Label-Use nur dann in Betracht, wenn es 1. um die Behandlung einer schwerwiegenden (lebensbedrohlichen oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigenden) Erkrankung geht, wenn 2. keine andere Therapie verfügbar ist und wenn 3. aufgrund der Datenlage die begründete Aussicht besteht, dass mit dem betreffenden Präparat ein Behandlungserfolg (kurativ oder palliativ) erzielt werden kann (vgl. z.B. BSG, Urteil vom 26.09.2006, B 1 KR 1/06 R). Abzustellen ist dabei auf die im jeweiligen Zeitpunkt der Behandlung vorliegenden Erkenntnisse (vgl. BSG, Urteil vom 27.09.2005, B 1 KR 6/04 R).
22
Es steht außer Frage, dass ein Glioblastom eine schwerwiegende, da regelmäßig tödlich verlaufende Erkrankung ist. Unstreitig ist ebenfalls, dass im vorliegenden Fall keine weiteren Therapieoptionen mehr zur Verfügung stehen. Es fehlt jedoch an einer aufgrund der Datenlage begründeten Erfolgsaussicht.
23
Nach der Rechtsprechung des BSG kann von einer begründeten Aussicht auf einen Behandlungserfolg nur dann ausgegangen werden, wenn Forschungsergebnisse vorliegen, die erwarten lassen, dass das betroffene Arzneimittel für die relevante Indikation zugelassen werden kann. Es müssen also Erkenntnisse in der Qualität einer kontrollierten klinischen Prüfung der Phase III (gegenüber Standard oder Placebo) veröffentlicht sein und einen klinisch relevanten Nutzen bei vertretbaren Risiken belegen (vgl. z.B. BSG, Urteil v. 26.09.2006, B 1 KR 1/06 R).
24
Das BSG hat in seinem Urteil vom 13.12.2016, B 1 KR 10/16 R, für eine im Jahr 2013 durchgeführte Behandlung eines rezidivierenden Glioblastoms mit Avastin festgestellt, dass aufgrund der Datenlage keine begründete Aussicht bestehe, mit dem betreffenden Präparat einen Behandlungserfolg (kurativ oder palliativ) gegen Glioblastome zu erzielen. Nach den bindenden Feststellungen des LSG (§ 163 SGG) sei es bis zum Abschluss des maßgeblichen Therapieintervalls (24.6. bis zum 2.9.2013) nicht zu einer abgeschlossenen, veröffentlichten Studie in der Qualität einer kontrollierten klinischen Prüfung der Phase III mit Relevanz für die Erkrankung des Versicherten gekommen.
25
Im vorliegenden Fall hat sich das Uni-Klinikum zur Begründung des streitgegenständlichen Antrags in erster Linie auf Studien aus den Jahren 2014 und 2015 bezogen. Sowohl die BELOB-Studie (Lancet Oncology 2014) als auch die Zulassungsstudie EORTC 26101 (Wick et al., Neuro-Oncology 2015) sind Phase II-Studien zu Bevacizumab in der Rezidivtherapie. Die BELOB-Studie hatte eine gute Wirksamkeit von Bevacizumab in Kombination mit Lomustin gezeigt. Die Zulassungsstudie EORTC 26101 (Wick et al., Neuro-Oncology 2015) hat die Daten der BELOB-Studie jedoch nicht bestätigt. Das primäre Studienziel einer Verbesserung des Gesamtüberlebens wurde verfehlt. Auch war die Lebensqualität in beiden Behandlungsarmen (eine Patientengruppe wurde nur mit Lomustin, die andere Gruppe mit Lomustin und Bevacizumab behandelt) vergleichbar. Allerdings zeigte sich eine deutliche Verbesserung des progressionsfreien Überlebens von 1,5 Monaten auf 4,2 Monate bei den mit Lomustin und Bevacizumab behandelten Patienten im Vergleich zu den nur mit Lomustin behandelten Patienten.
26
Nicht angesprochen wurde eine im November 2017 veröffentlichte Studie in der Qualität einer kontrollierten klinischen Prüfung der Phase III zu Bevacizumab in der Rezidivtherapie eines Glioblastoms (Wick et al., New England Journal of Medicine - NEJM - 2017; 377:1954-63: Lomustine and Bevacizumab in Progressive Glioblastoma). Auch diese Studie konnte weder eine Verbesserung des Gesamtüberlebens noch der gesundheitsbezogenen Lebensqualität noch der neurokognitiven Funktion bei einer Behandlung mit Bevacizumab und Lomustin (Kombinationsbehandlung) im Vergleich zu der nur mit Lomustin behandelten Patientengruppe bestätigen. Die Kombinationstherapie führte mit 38,5% zu signifikant mehr schwerwiegenden Nebenwirkungen als die Monotherapie mit 9,5% (vgl. hierzu auch Diener in: Arzneimitteltherapie 2018; 36(03):80-109). Wie schon bei der vorangegangenen Phase II-Studie zeigte sich jedoch eine Verbesserung des progressionsfreien Überlebens bei den mit der Kombinationsbehandlung therapierten Patienten.
27
Diese Ergebnisse der Phase III-Studie lassen nicht erwarten, dass Avastin eine Zulassungserweiterung zur Behandlung von Glioblastomen erhalten wird, so jedenfalls die Einschätzung des Leiters dieser Studie Prof. Wick (vgl. MTA-Dialog v. 28.11.2017, https://www.mta-dialog.de/artikel/kein-ueberlebensvorteil-fuer-glioblastom-patienten.html). Damit dürften die Voraussetzungen für einen Einsatz von Avastin im Off-Label-Use nicht vorliegen.
28
Der Senat kann jedoch nach derzeitigem Kenntnisstand nicht ausschließen, dass der Antragsteller nach den Grundsätzen grundrechtsorientierter Leistungsauslegung aus der Regelung des § 2 Abs. 1a SGB V einen Anspruch auf den beantragten Therapieversuch mit Bevacizumab hat. Danach können Versicherte mit einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung oder mit einer zumindest wertungsmäßig vergleichbaren Erkrankung, für die eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung nicht zur Verfügung steht, ausnahmsweise eine Leistung außerhalb des Leistungskatalogs der gesetzlichen Krankenversicherung beanspruchen, wenn eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf besteht. Abzustellen ist dabei auf die im jeweiligen Zeitpunkt der Behandlung vorliegenden Erkenntnisse.
29
Wie bereits dargelegt, besteht beim Antragsteller eine lebensbedrohliche Erkrankung. Ferner ist unstreitig, dass die schulmedizinischen Therapiemöglichkeiten ausgereizt sind. Schließlich bestehen Anhaltspunkte dafür, dass der geplante Therapieversuch mit Bevacizumab im Falle des Antragstellers spürbar positiv auf den Krankheitsverlauf einwirken könnte. Insoweit ist allerdings klarzustellen, dass ein tatsächlicher Behandlungserfolg beim Antragsteller noch nicht eingetreten ist (mit der Behandlung war im Zeitpunkt der sozialgerichtlichen Entscheidung noch nicht begonnen worden) - anders als dies die Entscheidungsgründe des angefochtenen Beschlusses nahelegen.
30
Nach der Rechtsprechung des BSG begründet jedoch § 2 Abs. 1a SGB V keinen Anspruch auf Fertigarzneimittel für eine Indikation, für die eine Genehmigung in einem Zulassungsverfahren nach VO (EG) Nr. 726/2004 abzulehnen war. Dazu genügt es, so das BSG, dass der Ständige Ausschuss für Humanarzneimittel der European Medicines Agency - wie im Falle von Avastin für die Indikation des rezidivierenden Glioblastoms - ein im Ergebnis ablehnendes Gutachten erstellte, ohne dass der Antragsteller das Verfahren weiterverfolgt (vgl. BSG, Urteil vom 13.12.2016, B 1 KR 10/16 R). Dies folge aus Entwicklungsgeschichte, Regelungssystem von Arzneimittelzulassungsrecht und SGB V sowie dem Regelungszweck, ohne dass der Wortlaut des § 2 Abs. 1a SGB V entgegenstehe (BSG, a.a.O). Das allgemein geltende, dem Gesundheitsschutz dienende innerstaatliche arzneimittelrechtliche Zulassungserfordernis dürfe durch eine vermeintlich „großzügige“, im Interesse des einzelnen Versicherten erfolgende richterrechtliche Zuerkennung von Ansprüchen auf Versorgung mit einem bestimmten Arzneimittel nicht faktisch systematisch unterlaufen und umgangen werden. Ein solches Vorgehen wäre sowohl mit einem inakzeptablen unkalkulierbaren Risiko etwaiger Gesundheitsschäden für den betroffenen Versicherten behaftet als auch mit einer nicht gerechtfertigten Ausweitung der Leistungspflicht zu Lasten der übrigen Versicherten verbunden. Solche Auswirkungen dürften einer Versichertengemeinschaft nicht aufgebürdet werden, die die Behandlung - typischerweise unter Anwendung des Instruments der Versicherungspflicht, also zwangsweise - finanziere. Eine Ausweitung der Ansprüche der Versicherten der GKV auf Arzneimittel, die deutschen arzneimittelrechtlichen Zulassungsstandards nicht genügen, müsse auf eng umgrenzte Sachverhalte mit notstandsähnlichem Charakter begrenzt bleiben (BSG, a.a.O. sowie Urteil vom 11.09.2018, B 1 KR 36/17 R).
31
Im speziellen Fall des Antragstellers spricht jedoch einiges dafür, dass eine notstandsähnliche Situation vorliegt, die es bei grundrechtsorientierter Auslegung gebietet, den Antragsteller trotz des ablehnenden Gutachtens des Ständigen Ausschusses für Humanarzneimittel der EMA für den geplanten Therapieversuch mit Bevacizumab zu versorgen. Wie sich dem Protokoll der Tumorkonferenz vom 30.06.2020 entnehmen lässt, verursachen die glioblastombedingten Ödeme beim Antragsteller flüssigkeitsgefüllte Zysten im Gehirn. Nach Einschätzung der Behandler stellt in dieser Situation Bevacizumab die einzig sinnvolle therapeutische Möglichkeit dar. Um auch nur eine mittelfristige Stabilisierung zu erreichen, sei eine Behandlung mit Bevacizumab dringend indiziert. Der MDK hielt in seinem Gutachten vom 09.06.2020 diese Einschätzung der behandelnden Ärzte im Hinblick auf die bekanntermaßen sehr starke antiödematöse Wirkung von Bevacizumab für medizinisch nachvollziehbar. Eine Verbesserung der Lebensqualität unter Bevacizumab könne durchaus eintreten, wenn durch den Hirntumor ein Begleitödem eingetreten sei. Demnach soll Bevacizumab im Falle des Antragstellers in erster Linie zur Linderung der zystenbedingten Beeinträchtigungen eingesetzt werden und der Neubildung weiterer Zysten entgegenwirken.
32
Nach den Darlegungen der Behandler liegen im Falle des Antragstellers keine spezifizierbaren Risiken für Nebenwirkungen vor. Relevante Nebenwirkungen seien nicht zu erwarten. Die vorläufige abstrakte und konkret auf den Versicherten bezogene Nutzen-Risiko-Analyse fällt damit im Falle des Antragstellers positiv aus.
33
Ein Anordnungsgrund und damit die Notwendigkeit einer Entscheidung im einstweiligen Rechtsschutz zur Abwendung wesentlicher Nachteile (vgl. Keller in: Meyer-Ladewig/ Keller/Leitherer/Schmidt, Kommentar zum Sozialgerichtsgesetz, 13. Auflage, § 86b Rn. 27a) ist glaubhaft gemacht. Aufgrund der vorliegenden lebensbedrohlichen Erkrankung und der akuten Zystensituation besteht eine besondere Dringlichkeit, die ein Abwarten auf eine umfassende Klärung des geltend gemachten Anspruchs als unzumutbar erscheinen lässt.
34
Auch der Senat kommt daher im Rahmen der Folgenabwägung zu dem Ergebnis, dass die Antragsgegnerin verpflichtet ist, den Antragsteller vorläufig mit dem Arzneimittel Bevacizumab zu versorgen. Das finanzielle Interesse der Antragsgegnerin und der Gemeinschaft der Beitragszahler hat hier gegenüber der Schutzpflicht des Staates aus Art. 2 Abs. 1 GG zurückzustehen. Die Beschwerde gegen den Beschluss des SG vom 23.07.2020 war daher zurückzuweisen.
35
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Abs. 1 SGG analog.
36
Dieser Beschluss beendet das Verfahren im einstweiligen Rechtsschutz und ist gemäß § 177 SGG unanfechtbar.